Mittwoch, 11. Juli 2018

"Elsa", Kapitel 10

Der Arzt war ein langer, dünner Mann mit bereits
weissen Haaren.
"Würden Sie sich bitte oben frei machen?" fragte
er, als Elsa eintrat.

"Aber gern, Herr Doktor", flüsterte Elsa und trat
näher an ihn heran. Dann begann sie, sich auszu-
ziehen, langsam und mit verführerischen Bewe-
gungen. Sie legte einen Striptease hin, als ob sie
auf der Bühne wäre. Der Arzt blieb nüchtern und
sachlich.
"Ich habe schon genug nackte Frauen gesehen",
sagte er, "als dass ein junges Ding wie Sie noch
verführen könnte."
Elsa machte einen Schmollmund. "Sie wissen
nicht, was Ihnen entgeht", sagte sie.
Der Arzt holte sein Stethoskop und begann, Elsas
Brüste abzuhorchen. "Tief einatmen, bitte."
Sie atmete so tief ein, wie sie nur konnte, so dass
sich ihre drallen Brüste noch mehr hoben, was aber
nur dazu führte, dass sie röchelnd husten musste.
"Noch einmal husten, bitte." Er horchte ihren
Rücken ab. "Das klingt nicht gut", meinte er.
Dann begann er, ihre Brüste abzutasten. "Das dient
lediglich der Früherkennung von Brustkrebs" erklär-
te er entschuldigend. Elsa lächelte.
"Warum hören Sie auf?" fragte sie, als er fertig war.
Er untersuchte ihre Sehkraft und ihr Gehör. Beides
war in Ordnung. Dann mass er ihre Grösse und stell-
te sie auf die Waage. Als alles gecheckt war, liess er
sie ihm eine Urinprobe abliefern.
"Nehmen Sie irgendwelche Drogen?" fragte der Arzt.
"Nein", log sie.
Der Arzt wusste, dass dies nicht stimmte. "Rauchen
Sie?" fragte er weiter.
"Ja."
"Trinken Sie Alkohol?"
"Nein." Hier sprach sie die Wahrheit. Für Alkohol
konnte sie sich nicht begeistern.
"Ich würde Ihnen gern etwas Blut abzapfen", sagte
der Arzt. Elsa war damit einverstanden.
"Das war's", machte der Arzt, als er fertig war. "Soll-
te irgendetwas nicht in Ordnung sein, gebe ich Ihnen
Bescheid. Adresse und Telefonnummer habe ich ja."
"Rufen Sie ruhig auch sonst mal an", meinte Elsa
und warf ihm beim Hinausgehen eine Kusshand zu.
Der Doktor seufzte und schrieb etwas auf seinen
Notizblock.

Nach etwa einem Monat klingelte bei Elsa das Tele-
fon. Sie nahm es ab.
"Frau von Tavel? Hier ist Doktor Frey. Wissen Sie
noch, die Untersuchung an der Uni?"
"Ah, Herr Doktor! Was kann ich für Sie tun?" Sie
versuchte, ihre Stimme verführerisch klingen zu
lassen, aber es gelang ihr nicht mehr so gut wie
früher.
"Ich habe heute die Ergebnisse Ihrer Blutuntersu-
chung bekommen", erzählte der Doktor sachlich.
"Ich muss Ihnen leider eine erschreckende Mittei-
lung machen. Können Sie heute noch in meine Pra-
xis kommen?"
"Aber gern", flötete Elsa.
Dem Arzt entging ihr Tonfall keineswegs. "Freuen
Sie sich nicht auf so was", meinte er. "Die Lage ist
ernst. Sie sind..." Er brach ab.
"Was ist denn?" fragte sie.
Am anderen Ende der Leitung nahm der Doktor tief
Luft. "Sie sind HIV-positiv", sagte er dann.
Elsa liess der Hörer fallen.

"Was nun?" fragte sie, als sie dem Doktor in dessen
Praxis gegenüber sass.
"Kein ungeschützter Geschlechtsverkehr mehr",
antwortete dieser. "Und versuchen Sie, von den
Drogen wegzukommen."
"Ich nehme keine..."
"Lügen Sie mich nicht an!" schrie der Arzt. "Ihre
Augen sprechen eine andere Sprache!"
"Wie soll ich denn davon loskommen?"
"Mit Hilfe einer Therapie. Ich helfe Ihnen, und ein
Psychiater wird Ihnen helfen. Er heisst Dr. Leiden-
berg und ist einer der besten seines Fachs. Wenn
Sie einverstanden sind, kann ich gleich jetzt einen
Termin bei ihm ausmachen."
"Na gut", seufzte Elsa.
Der Arzt wählte eine Nummer. "Dr. Leidenberg,
bitte... Hallo, Sigi. Heinrich Frey hier. Hast du
noch einen freien Termin für eine Drogenpatientin?
Dienstags um Vier?" Er wandte sich an Elsa: "Geht
das?" Sie nickte. Dann sprach er wieder in den Hörer:
"Das geht okay. Danke. Tschüss."
Er legte auf, dann schrieb er etwas auf einen Zettel,
den er Elsa überreichte. "Die Adresse seiner Praxis."
Dann stand er auf. "Ich gebe Ihnen noch die Medika-
mente für HIV-Patienten mit. Und dann kommen Sie
in 14 Tagen wieder vorbei. Lassen Sie sich von Frau
Mürner einen Termin geben."
Als Elsa aus der Praxis trat, begann sie, zu weinen.

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