Sonntag, 16. Februar 2020

Kurzgeschichte: "Der gestohlene Gainsborough"


(Bild von Thomas Gainsborough)

"Ich weiss nicht, ob Sie der richtige Mann für diesen
Auftrag sind", murmelte Jules Nemo in seinen grauen
Bart, als er mein Büro an der Gerechtigkeitsgasse be-
trat.
"Um das herauszufinden", meinte ich, "sollten Sie mir
erst mal erzählen, um was für einen Auftrag es sich
handelt."
"Also gut", seufzte er und setzte sich hin.
Jules Nemo war ein steinreicher Mann, der sich seit
Kindesbeinen ein Leben im Luxus gewohnt war. Mein
spärlich eingerichtetes Büro musste ihm wohl Unbeha-
gen bereiten.
"Kennen Sie sich in Kunst aus, Herr Torso?" fragte er
mich.
"Geht so", meinte ich. "Die zeitgenössischen Künstler
mag ich nicht besonders. Renoir und Rubens, die mag
ich. Und Anker, wenn es um einheimisches Schaffen
geht. Aber ansonsten..."
"Sagt Ihnen der Name Thomas Gainsborough etwas?"
"Nein. Ist das ein Geschäftspartner von Ihnen?"
Er seufzte. "Thomas Gainsborough", erklärte er, "war
ein englischer Maler des 18. Jahrhunderts. Er widme-
te sich vorwiegend der Portrait-und Landschaftsmale-
rei und gilt als einer der bedeutendsten Porträtisten
seiner Zeit."
"Schön für ihn. Hat das was mit dem Auftrag zu tun?"
"Nun", erzählte er weiter, "es gelang mir, bei einer
Auktion in der Galerie Burr ein seltenes Selbstpor-
trait dieses Künstlers zu ersteigern. Als dieses ange-
liefert wurde, stellte sich heraus, dass die Galerie
das Bild gar nicht geliefert hatte."
"Wie soll ich das verstehen?"
"In dem Paket, das geliefert wurde, befanden sich le-
diglich der Bilderrahmen und darin eine weisse Lein-
wand. Aber das Bild selber war nicht dabei..."
"Wie wurde das Bild geliefert?"
"Durch die Galerie selber. Ich war natürlich sehr unge-
halten, insbesondere den Lieferanten gegenüber. Diese
meinten, sie würden die Sache weiterleiten, um sie ab-
zuklären. Ich fragte sie nach ihren Namen. Hier..."
Er überreichte mir einen Zettel. "Ich habe sie aufge-
schrieben", sagte er.
"Sehr lobenswert", meinte ich und warf einen Blick auf
den Zettel. Die Herren hiessen Buchser und Hodler.
"Das Verrrückte ist", fuhr Nemo weiter, "dass ich dabei
war, als das Bild eingepackt wurde. Bei solchen Werten
ist das normal. Ich konnte es nur nicht gleich mitneh-
men, da mein Chauffeur seinen freien Tag hatte."
"Wann war das?"
"Am Dienstag. Die Auktion war um 16 Uhr. Geliefert
wurde am Mittwoch um 13 Uhr 30. Ist das wichtig?"
"Weiss ich noch nicht. Wo ist diese Galerie?"
"Im Monbijou. Ich habe die Adresse hier..." Er nahm
seine Brieftasche hervor und entnahm dieser eine Vi-
sitenkarte, die er mir überreichte.
"Ich denke", sagte ich, "dass ich den Fall durchaus über-
nehmen könnte. Was denken Sie?"
Er dachte kurz nach. "Ich war skeptisch, als ich Ihr Büro
sah. Meine Familie ist sich eigentlich Besseres gewohnt.
Aber Sie scheinen professionell an die Sache ranzugehen.
Sie haben den Auftrag. Wie sind Ihre Konditionen?"
Ich forderte eine übertrieben hohe Vergütung, der er an-
standslos zustimmte, und wir kamen ins Geschäft.
"Wurde die Polizei hinzugezogen?" fragte ich.
"Herr Burr wollte dies nicht", antwortete Nemo. "Er woll-
te die Sache zunächst intern regeln. Inzwischen ist eine
Woche vergangen, und ich habe noch nichts von ihm ge-
hört. Also nahm ich Kontakt auf und schlug vor, einen
Privatdetektiv zu kontaktieren, der etwas diskreter vorge-
hen könne als die Polizei."
"Dann werde ich dem Galeristen wohl mal einen Besuch
abstatten", meinte ich und steckte die Visitenkarte ein.

Als ich die Galerie betrat, blickte mich ein graumelierter,
kräftig gebauter Herr in Anzug und Krawatte kritisch an.
Er schien zu der Sorte Mensch zu gehören, der die Leute
nach ihren Kleidern beurteilte. Meine Alltagsklamotten
schienen ihm nicht edel genug zu sein. Und das, obschon
ich mein nobelstes Holzfällerhemd angezogen hatte. In
der Ecke standen ein paar eingepackte Gemälde- ich nahm
zumindest an, dass es Gemälde waren- an der Wand.
"Kann ich Ihnen helfen?" fragte er mich.
"Sind Sie der Chef hier?" fragte ich zurück.
"Der bin ich", antwortete er. "Robert Burr, Galerist."
Ich zeigte ihm meine Lizenz. "Roman Torso, Privatdetek-
tiv", äffte ich ihn nach. "Sie wissen, weshalb ich hier bin?"
"Ah, dann sind Sie wohl der Detektiv, den Herr Nemo an-
heuern wollte." Seine Miene wurde gleich etwas freundli-
cher. "Wie kann ich Ihren Ermittlungen behilflich sein?"
"Indem Sie mir erstmal alles über das verschwundene
Bild erzählen", antwortete ich. "Wie gross ist es? Wie
sieht es aus? All so was eben."
"Es ist in unserem Auktionskatalog abgebildet, die Masse
stehen dabei", erzählte er. "Frau Klee, unsere Verkäuferin,
nahm das Bild entgegen, als es uns angeboten wurde, und
sie war auch zuständig für die Auswahl der Werke, die
unter den Hammer kommen sollten. Ich selber leitete zwar
die Auktion, aber der ganze Rest war die Arbeit von Frau
Klee. Deshalb sah ich das Bild erst bei der Auktion zum
ersten Mal."
"Könnte ich dann bitte mit Frau Klee sprechen?"

Petra Klee war eine hochgeschossene Dunkelhaarige mit
strengen Gesichtszügen. Ihr Teint wollte ihre Umgebung
glauben lassen, sie wäre unter fünfzig, doch ihre Hände
verrieten ihr wahres Alter. Sie reichte mir den Auktions-
katalog und suchte mir die Abbildung des Gainsborough-
Bildes heraus. Ich muss gestehen, dass ich etwas ent-
täuscht war. Bei dem Aufruhr, der um das Gemälde ge-
macht wurde, hätte ich etwas erwartet, was einem Rubens
gleichkommen würde. Stattdessen blickte ich auf ein
schlicht gehaltenes Portrait eines Mannes in einem dunk-
len Anzug jener Zeit.
"Gainsborough war einer der bedeutendsten englischen
Porträtisten seiner Zeit", erzählte Frau Klee. "Aber Selbst-
portraits sind von ihm eher wenige erhalten. Das macht
dieses Werk so wertvoll."
"Und es ist auch garantiert echt?" fragte ich.
"Da gibt es keinen Zweifel", meinte sie. "Ich selbst habe es
untersucht."
"Und was macht Sie so sicher?"
"Langjährige Erfahrung. Ich war lange Kuratorin im Kunst-
haus Zürich. Aber dann zog es mich zurück nach Bern..."
"Verstehe ich", meinte ich. "Darf ich diesen Katalog ein-
stecken?"
"Selbstverständlich. Dafür sind Kataloge schliesslich da."
"Vielen Dank. Die Lieferanten, die mit dem vermeintli-
chen Bild unterwegs waren, wo finde ich die?"
"Sie müssten hinter dem Haus sein", antwortete sie und
blickte sich kurz um. "Wir haben neue Ware reingekriegt,
sie sind wohl noch beim Ausladen."

Ferdinand Buchser und Frank Hodler waren tatsächlich
hinter dem Haus beim Ausladen einiger Gemälde, die
ebenso eingepackt waren wie diejenigen, die in der Ga-
lerie an der Wand lehnten. Daher konnte ich nur vermu-
ten, dass es sich um Gemälde handelte. Die Herren wa-
ren beide gross, schlank und kräftig, doch Hodler, der
einen dunklen Bart trug, wirkte etwas ursprünglicher
als Buchser, der blond und glattrasiert war.
"Sie haben nicht bemerkt, dass das Gemälde gar nicht im
Paket war?" fragte ich.
"Nein", antwortete Buchser, der allgemein mehr sprach
als der eher knorrige Hodler. "Erst, als der Kunde das
Paket öffnete..."
"Wer übergab Ihnen das Paket?"
"Frau Klee. Sie erhielt es wiederum vom Chef persönlich."
"Und der Kunde war dabei, als Herr Burr das Bild ein-
packte", murmelte ich.
"Ja, das ist so üblich", erwiderte Buchser.
"Das war am Tag zuvor", warf Hodler ein.
"Natürlich", bedankte ich mich. "Das darf ich nicht vergessen."

Wenn ich mich mit einem Fall befasse, weiss ich gerne ge-
nauestens Bescheid, womit ich es zu tun habe. Deswegen
führte mich mein Weg in die Kornhausbibliothek.
"Entschuldigen Sie", fragte ich eine junge, blonde, mollige
Bibliothekarin mit Brille. "Wo finde ich Bücher über Kunst?"
"Zweiter Gang in dieser Richtung", antwortete sie und zeig-
te mit der Hand, wohin ich mich wenden musste.
Als ich dort eine Weile gesucht und nichts gefunden hatte,
ging ich noch einmal auf sie zu.
"Entschuldigung", sprach ich sie erneut an, "haben Sie Lite-
ratur über den Maler Thomas Gainsborough?"
"Ich fürchte, nein", antwortete sie. "Wahrscheinlich ist der
nicht bekannt genug, um für unsere Leser von grossem In-
teresse zu sein. Aber Sie können gerne im Internet recher-
chieren."
Ich setzte mich an einen der Computer in der Bibliothek
und rief Wikipedia auf. Tatsächlich fand ich einen Eintrag
über Thomas Gainsborough. Bei der Durchsicht stiess ich
auf einen Namen, der mir bekannt vorkam. Ich recherchier-
te weiter, bis die Bibliothekarin hinter mir stand und mich
ermahnte: "Die Benutzung der Computer ist leider nur für
eine Stunde gestattet."
Ich blickte auf die Zeitanzeige des Bildschirms. "O ja, bit-
te entschuldigen Sie", stammelte ich. "Aber immerhin ha-
be ich gefunden, was ich brauchte."

"Weshalb brechen wir hier ein?" fragte Moritz Loeb, nach-
dem er es geschafft hatte, nachts in die Galerie hereinzu-
kommen, ohne den Alarm auszulösen. Moritz wirkt zwar
eher harmlos, doch dieser Kerl hat es faustdick hinter den
Ohren. Durch seine Kontakte zur Unterwelt hat er einiges
mitbekommen, das ihm bei seiner Arbeit von Nutzen sein
kann. Moritz ist ebenfalls Privatdetektiv und mit mir be-
freundet. Hin und wieder, so wie in diesem Fall, bitte ich
ihn, seiner speziellen Fähigkeiten wegen, um Hilfe. Mo-
ritz hat kein Problem damit, auch mal am Rande der Le-
galität zu operieren.
"Wir suchen etwas", antwortete ich ihm, "von dem ich al-
lerdings nicht weiss, ob es wirklich hier ist."
"Und wenn es das nicht ist?"
"Dann müssen wir eine Privatadresse ausfindig machen
und uns dort umsehen. Ich glaube aber, dass hier das
bessere Versteck wäre."
Ich trat zu einem der Pakete an der Wand und begann, es
aufzureissen.
"Müssen wir alle diese Pakete aufreissen?" fragte Moritz.
"Nein", antwortete ich. "Nur diejenigen, die eine bestimmte
Grösse haben."
Nach dem vierten Paket lachte uns endlich das Glück.
"Bingo", meinte ich.
"Und was nun?" fragte Moritz. "Entwenden wir es?"
"Wir lassen es hier", beschloss ich, "und legen uns auf die
Lauer. Morgen früh, wenn die Galerie aufschliesst, müs-
sen wir hier vor Ort sein."
"Damit uns die Bullen gleich verhaften können?"
"Nein, Moritz", grinste ich. "Damit die Bullen gar nicht erst
gerufen werden."

Wie erwartet, war der Inhaber der erste, der morgens des
Weges kam, um die Galerie aufzuschliessen. Sein so oder
so schon kritischer Blick wurde noch strenger, als er Mo-
ritz und mich vor seinem Laden stehen sah, der bereits
offen war.
"Herr Torso, was...?" begann er.
"Herr Burr", unterbrach ich ihn, "dies ist Herr Loeb, ein
Kollege von mir. Letzte Nacht wurde hier eingebrochen.
Aber keine Angst: Es wurde nichts gestohlen."
"Aber warum hat man dann...?" Burr schien sichtlich ver-
wirrt zu sein. "Wissen Sie, wer es war?"
"O ja, das wissen wir", antwortete ich. "Aber lassen Sie uns
doch reingehen."
Als wir die Galerie betraten, fiel Burrs Blick gleich als Erstes
auf die ausgepackten Gemälde.
"O mein Gott!" schrie er. "Was ist denn hier...?"
"Wir haben uns hier drin bereits etwas umgesehen", erzählte
Moritz, "konnten aber niemanden sehen."
Das war noch nicht mal gelogen. Obschon Moritz lügen kann,
ohne rot zu werden. Ich habe da mehr Probleme damit.
"Aber wir haben etwas entdeckt", ergriff ich das Wort und
trat zu dem Gainsborough.
"Aber das ist doch...", stammelte Burr.
"Der Grund, warum die Polizei nicht eingeschaltet werden
sollte", warf ich ein. "Der gestohlene Gainsborough war
gar nicht gestohlen. Er hatte die Galerie nie verlassen."
"Wieso...?" wollte Burr anfangen, doch ich schnitt ihm das
Wort ab.
"Ihr Name", begann ich, "wird eigentlich englisch ausge-
sprochen, nicht wahr? Wie bei dem amerikanischen Schau-
spieler Raymond Burr?"
"Der war doch Kanadier", berichtigte mich Moritz.
"Mag sein", meinte ich. "Spielt für uns aber keine Rolle.
Ich habe mich ein bisschen über Thomas Gainsborough
schlau gemacht. Dabei stiess ich auf den Mädchennamen
seiner Frau: Margaret Burr. Ich forschte weiter nach und
fand Verweise auf einen langen Familienstammbaum, dem
auch Sie entstammen, nicht wahr, Herr Burr?"
Er setzte sich auf einen Stuhl und seufzte. "Ja, Sie haben
recht", erklärte er. "Als ich das Bild bei der Auktion sah,
wusste ich, dass ich es nicht hergeben könnte. Immerhin
wäre es eigentlich Familienbesitz. Also habe ich es wie-
der ausgepackt und mit einem anderen Paket ausgetauscht."
"Und gehofft, dass irgendwann Gras über die Sache wach-
sen würde", ergänzte ich. "Dass Herr Nemo einen Privat-
detektiven mit dem Fall betreuen würde, konnten Sie nicht
ahnen. Nun, ich verstehe Ihre Beweggründe durchaus. Aber
ich denke, Sie sollten sich mit Herrn Nemo einig werden,
was mit dem Bild geschieht. Rein rechtlich gesehen ist er
der Eigentümer des Werks."
"Werden Sie mich anzeigen?" fragte er.
"Das kommt auf Herrn Nemo an", meinte ich. "Ich bin nur
ihm gegenüber verpflichtet. Wenn Sie sich gegenseitig ei-
nigen können, sehe ich keinen Grund, Ihr Geschäft zunich-
te zu machen."

Nemo und Burr konnten sich tatsächlich einigen. Nemo blieb
Eigentümer des Werkes, doch Burr konnte es in seinem Land-
haus aufhängen, wo es, meines Wissens nach, immer noch
hängt. Der Einbruch in die Galerie wurde bis heute nie auf-
geklärt. Moritz versteht eben sein Handwerk.

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