Montag, 2. Juli 2018

"Elsa", Kapitel 4

Serenity by Hazelgee
(Bild von Hazel Gee)

Die erste Philosophiestunde hatte begonnen. Der Lehrer, ein
grosser Mann mit ergrautem Bart, der zur Fülle neigte, hiess
Professor Klaus-Jürgen Meister. Er hatte eine tiefe, markante
Stimme.
"Die Geschichte der heutigen Philosophie, der Philosophie über-
haupt, begann im antiken Griechenland", erzählte er. "Wer kann
mir einen Philosophen aus der Antike nennen?"
"Aristoteles", antwortete Jemand.
"Aristoteles. Ein sehr bekannter Philosoph. Wir werden seinen
Lehren in späteren Lektionen unsere Zeit opfern. Sonst noch
einer?"
"Platon", antwortete ein Anderer.
"Platon, auch ein Klassiker. Sein Denken prägte die Philoso-
phie bis in die Neuzeit hinein. Wir werden sicher noch dazu
kommen, die Gemeinsamkeiten zwischen Platon und Marx zu
entdecken. Wer kennt noch einen?"
"Sokrates", meldete Elsa sich. Sie blickte dem Professor di-
rekt in die Augen. Er merkte, wie es ihm unbehaglich wurde,
liess sich aber nichts anmerken.
"Sokrates, das kommt der Sache schon näher", lobte er. "Aber
was war vor Sokrates?"
Allgemeines Schweigen. "Keine Idee?" fragte der Professor.
"Die Vorsokratiker", sagte Elsa und lächelte ihn an.
"Ich merke, Sie kennen sich aus", lobte er, bemüht, ruhig zu
wirken. Aber das Lächeln und die Figur dieser jungen Stu-
dentin machten es ihm nicht leicht. "Kennen Sie auch den
Namen eines dieser Vorsokratiker?"
"Pythagoras", antwortete Elsa.
"Das war wohl der bekannteste. Er gilt auch als Erfinder der
Mathematik."
"Ich hasse ihn", sagte Elsa, was zu grossem Gelächter im
Hörsaal führte.
Der Professor fuhr mit seinen Ausführungen fort: "Die grie-
chische Philosophie nahm ihren Ausgang von Milet, einer
Handelsstadt in Ionien, aus. Die Philosophen der sogenann-
ten 'Schule von Milet' fragten sich, woraus die Welt besteht.
Thales meinte, die Welt sei ganz und gar aus Wasser gebil-
det. Anaximander glaubte, dass Luft, Wasser und Feuer die
Welt geformt hätten. Anaximenes glaubte, dass Luft der Ur-
Stoff sei. Pythagoras behauptete, dass alle Dinge auf Zahlen
beruhen. Der Pythagoräerbund behauptete auch, dass Ord-
nung, Form und Gestalt Qualitäten des Guten und Unord-
nung, Dunkelheit und Undefiniertheit solche des Schlechten
seien."
"Das erzählt unser Pfarrer auch immer", rief ein Junge aus
den hinteren Reihen dazwischen. Der Saal tobte vor Lachen.
Als es wieder ruhiger wurde, sprach der Professor weiter:
"Parmenides betrachtete die Welt als etwas in sich Bruch-
loses, als etwas Ganzes. Wirklichkeit war für ihn etwas Un-
teilbares und Unendliches. Demzufolge gab es auch keine
Rangunterschiede und keine Hierarchie. Fällt Ihnen dabei
eine Bewegung oder Philosophie neuerer Zeit ein?"
"Der Anarchismus", antwortete Jemand.
"Nicht schlecht", sagte der Professor. "Aber zurück zu Par-
menides. Für ihn konnte es auch keine Veränderung geben,
da Veränderung der Eigenschaft der Welt, unteilbar zu sein,
widersprechen würde."
"Klingt nach SVP", rief der Junge aus der hinteren Reihe,
was wiederum zu Gelächter führte.
In diesem Moment läutete es zur Pause.

Elsa trat zum Professor, der gerade seine Mappe packte.
"Das war ein interessanter Vortrag, Herr Professor",
sagte sie.
"Danke, Frau...?"
"Elsa von Tavel. Nennen Sie mich doch Elsa." Sie stellte
sich so in Pose, dass ihr Minirock hochrutschte und kam
dem Professor mit ihrem Oberkörper recht nahe. Auf
seiner Stirn bildeten sich Schweisstropfen.
"Hören Sie", sagte er, und seine Stimme flatterte, "Sie
sind eine attraktive Frau, und Sie kennen sich mit Philo-
sphie aus, aber Sie sind meine Schülerin und ich ihr Leh-
rer, mehr nicht. Ausserdem bin ich verheiratet und habe
Familie."
"Sie können es sich ja noch überlegen", machte Elsa.
Dann kehrte sie sich um und ging in Richtung Campus,
doch blickte sie noch einmal zurück und machte einen
Kussmund, bevor sie das Zimmer hüftschlenkernd ver-
liess.

Auf dem Campus unterhielten sich die Jungen aus der
Klasse.
"Hast du die Kleine gesehen, die den Prof so beeindruckt
hat? Die ist klasse!"
"Vergiss es, Charlie! Die kriegst du nie."
"Warum denkst du? Glaubst du, ich krieg' keine hübsche
Frau nich' rum?"
"Die ist viel zu intelligent. Mit solchen Frauen hat man
nur Stress."
"Woher willst du das wissen? Du machst mir nicht den
Anschein, als ob du mal 'ne intelligente Frau abgekriegt
hättest..."
"Um den zu übertreffen, muss eine Frau nicht mal sonder-
lich intelligent sein", warf ein Dritter scherzhaft ein.
Ein Vierter zeigte auf die Treppe und rief: "Achtung! Sie
kommt!"
"Jetzt werdet ihr schon sehen, ob ich die rumkrieg' oder
nicht", sagte Charlie, der gross gewachsen war und etwas
ungeschlacht wirkte. Er löste sich von der Gruppe und
kam auf Elsa zu. Die Jungen begannen, Wetten abzu-
schliessen.

"Hey", sagte Charlie.
"Hey", sagte Elsa.
Er reichte ihr die Hand. "Ich bin Charlie."
"Elsa."
"Hör mal, Elsa", begann er. "Du hast da vorhin ziem-
lichen Eindruck auf mich gemacht. Also dachte ich,
es wäre sicher nett, dich etwas besser kennenzulernen.
Hättest du nicht Lust, eine Einladung von mir anzu-
nehmen?"
Elsa lächelte ihn an. "Gern. Wann?"
"Heute? 18 Uhr? Hier?"
"Okay. Um 20 Uhr muss ich aber gehen. Hab' noch
'ne Nachtschichtstelle."
"Okay."
"Komm doch etwas runter", bat sie. Er bückte sich
leicht, und sie küsste ihn auf die Stirn.
"Bis dann", sagte sie und ging.

"Ha! Sie hat mich geküsst!" sagte Charlie voller Stolz,
als er zu der Gruppe zurückkehrte.
"Das muss nichts heissen", sagte einer der Anderen.
"Kriegst du sie auch ins Bett?"
"Klar."
"Von wegen! Ein Flittchen vielleicht! Aber die nicht!
Die hat Grips!"
"Darum küsst sie auch mich und nicht dich", meinte
Charlie und ging.

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