Olivia Sacher sass mir in meinem Büro gegenüber, blond,
jung und mollig. Ihre braunen Augen blickten mir gerade-
wegs ins Gesicht. Sie trug ein ärmelloses, schwarzes Ober-
teil mit einem gewagten Ausschnitt. In Gedanken fragte ich
mich, ob sie überhaupt schon alt genug für so ein Teil war.
"Ich suche meinen Bruder", sprach sie. "Jakob Sacher. Hier
ist ein Foto."
Ich nahm das Bild entgegen. Es zeigte einen blonden Jüng-
ling.
"Er wollte nach Bern", erzählte sie weiter. "Danach habe
ich nichts mehr von ihm gehört."
Ich nahm meinen Notizblock und zückte einen Kugelschrei-
ber.
"Wann war das?" fragte ich. "Und wo?"
"Vor einem Monat", antwortete sie. "Wir kommen aus Wohlen
im Kanton Aargau."
"Das ist nicht gerade um die Ecke."
"Normalerweise telefonieren wir uns wöchentlich, wenn er
irgendwo unterwegs ist. Aber diesmal kam nichts. Ich befürch-
te, dass ihm etwas zugestossen seinn könnte."
"Ist er älter oder jünger als Sie?"
"Er ist drei Jahre älter."
"Hat er erwähnt, was er in Bern wollte?"
"Nicht direkt. Er sagte nur, er müsse etwas erledigen. Mein
Bruder... er hat ein Drogenproblem. Wir dachten er wäre
clean, nachdem er einen Entzug gemacht hat, aber nun... ich
meine, er fuhr nach Bern..."
"Wo es an mehr als nur an einer Ecke Drogen zu kaufen gibt."
Ich steckte das Foto ein. "Ich höre und sehe mich mal an den
einschlägigen Orten um. Wie und wo kann ich Sie erreichen?"
"Ich muss wieder nach Wohlen zurück. Ich wohne noch zu-
hause, und ich will nicht, dass meine Eltern sich um mich auch
noch sorgen müssen. Aber ich schreibe Ihnen die Telefonnum-
mer auf."
Sie nahm meinen Stift und schrieb.
"Wenn Sie dort anrufen", bat sie noch, "erwähnen Sie bitte nicht,
dass Sie Detektiv sind. Ich weiss nicht, ob meine Eltern meinen
Plan gutheissen..."
"Können Sie mein Honorar bezahlen?"
"Ich denke schon. Ich arbeite in einer Coop-Filliale. Und ich bin
ausgelernt."
"Dann sind Sie wohl volljährig und Ihren Eltern keine Rechen-
schaft mehr schuldig...?"
"Volljährig, ja", seufzte sie. "Aber das mit der Rechenschaft ist so
eine Sache. Sie kennen meinen Vater nicht, Herr Torso."
"Vielleicht lerne ich ihn ja mal kennen. Was für Drogen konsu-
miert Ihr Bruder?"
"Cannabis und Kokain. So weit ich weiss..."
"Trinkt er Alkohol?"
"Nicht regelmässig. Aber wenn, dann lässt er sich vollaufen."
"Dann weiss ich jetzt, wo ich nach ihm suchen könnte", meinte
ich. Ich stand auf, reichte ihr die Hand und versprach, mich zu
melden, sobald ich eine Spur hätte.
Es gibt in Bern mehrere Orte, an denen es eine Chance gibt, ent-
weder Drogenkonsumenten oder Dealer oder gar beides anzu-
treffen. Derjenige, der meinem Büro in der Gerechtigkeitsgasse
am nächsten liegt, ist die Münsterplattform. Es dämmerte bereits,
so dass die Chance, auf Gesindel zu treffen, durchaus bestand.
Tatsächlich, da stand auch schon ein farbiger Typ, der flüsternd
Leute ansprach. Als ich zu ihm hintrat, gab er Fersengeld. Er
wusste genau, dass ich kein Kunde war. Ich holte ihn ein und
packte ihn am Kragen.
"Ich bin nicht vom Drogendezernat", zischte ich ihm zu. "Ich
bin noch nicht einmal ein Bulle."
"Du hast dich genähert wie ein Bulle", meinte er.
"Soll ich das als Beleidigung oder als Kompliment auffassen?"
fragte ich. Ich zeigte ihm das Foto von Jakob Sacher. "Den
Typen hier schon mal gesehen?"
"Der hat früher mal bei mir gekauft", antwortete er. "Aber er
kam eine ganze Weile nicht mehr. Entweder ist er clean oder
tot, oder er hat 'nen andern Lieferanten."
Ich liess ihn los. "Na gut", meinte ich. "Mehr wollte ich nicht.
Aber nichts an Minderjährige verklickern, klar?"
Die nächste Station hiess Casa Marcello, ein Restaurant in der
Aarbergergasse. Der Betreiber dort hat ein Herz für die Rand-
ständigen der Stadt, so dass sich einige von ihnen öfters dort
herumtreiben. Vorbei an denjenigen, die sich vor dem Lokal
was zu rauchen anzündeten- und nicht bloss legales Zeug-
betrat ich die Stube. Eine abgebrüht aussehende Servierdüse
trat mir entgegen. Ich hielt ihr das Foto hin.
Kennen Sie den Typen da?" fragte ich.
"Bist du 'n Bulle?" fragte sie.
"Wieso, hab' ich Hörner? Ich suche aus privatem Anlass nach
ihm."
Sie nahm das Foto, betrachtete es etwas länger und gab es
mir dann zurück.
"Ja, der war kurz da", erzählte sie. "Er sagte, wenn eine junge
Blondine nach ihm fragt, soll ich ihm etwas geben."
"Und mir geben Sie nichts?"
"Du bist keine junge Blondine."
"Ich könnte mich ja als eine verkleiden."
"Dann müsstest du dich aber besser rasieren. Er sagte ausdrück-
lich: Nur dieser jungen Blondine."
"Na gut", seufzte ich. "Ich komme wieder."
Zurück in meinem Büro, holte ich die Telefonnummer hervor,
die Olivia Sacher mir gegeben hatte, und rief dort an.
"Sacher", meldete sich eine Männerstimme.
"Ist Olivia da?" fragte ich.
"Wer ist da?"
"Ein Verehrer. Dürfte ich mit ihr sprechen, bitte?"
Ich hörte, wie er seiner Tochter rief, und kurz darauf klang deren
Stimme an mein Ohr.
"Hallo?"
"Hier Torso. Nennen Sie mich du, ich habe behauptet, ein Vereh-
rer zu sein. Ich habe eine Spur, aber ich brauche Ihre Hilfe. Wann
könnten Sie in Bern sein?"
"Ich arbeite morgen bis ein Uhr. Um drei könnte ich da sein."
"Sehr gut. Dann treffen wir uns am Bahnhof. Bis dann, Schätze-
lein."
Olivia Sacher war pünktlich um drei Uhr am Bahnhof Bern. Ich
führte sie zur Aarbergergasse und erklärte ihr, dass ihr Bruder
dort wohl etwas hinterlassen hätte, was nur einer jungen Blon-
dine weitergegeben werden dürfe, womit wahrscheinlich sie ge-
meint wäre. Als wir die Casa Marcello betraten, konnte sie ihr
Unwohlsein nicht verbergen. Die verhärmte Kellnerin war da.
"Ist sie jung und blond genug?" fragte ich, als wir zu ihr hin-
traten.
"Wie heisst du, Schätzchen?" fragte sie.
"Roman", antwortete ich.
"Du doch nicht", keifte sie mich an. "Ich frage das Mädchen."
"Ich?" Meine Klientin schien überrascht. "Ich heisse Olivia."
"Dann bist du die Richtige", sagte die Kellnerin. Sie ging kurz
hinter die Theke und entnahm einer Schublade einen Zettel,
den sie Olivia überreichte. Auf dem Zettel war eine Adresse
im Mattenquartier notiert.
Die Matte, das Quartier in der unteren Altstadt, war früher ein
Arbeiterquartier. Heute leben dort allerhand Leute, aber zwei
Dinge sind aus alten Zeiten noch geblieben: einige Ausdrücke
aus der Geheimsprache der Arbeiterschicht, dem sogenannten
"Mattenenglisch", die sich im Berndeutschen etabliert haben,
und die Tatsache, dass das Quartier regelmässig mit Hochwas-
ser zu kämpfen hat, da die Häuser zu nah an der Aare gebaut
wurden. Der Fluss führte gerade Niedrigwasser, so dass Oli-
via und ich problemlos durch die Gassen kamen. Wir fanden
die Adresse. Im zweiten Stock war tatsächlich jemand mit
Namen Sacher zuhause. Die Haustür war offen, so dass wir
das Treppenhaus betraten. Im zweiten Stock angekommen,
klingelte ich. Eine dünne Blondine mit grossen Augen öff-
nete die Tür.
"Frau Sacher?" fragte ich.
"Ja, bitte?"
"Kennen Sie einen Herrn Jakob Sacher?"
"Das ist mein Mann. Warum?"
"Ihr Mann?" fragte Olivia.
Aus dem Off erklang eine Männerstimme, die den Namen
"Olivia" rief, und kurz darauf erschien Jakob Sacher höchst-
persönlich in unserem Sichtfeld.
Wir sassen in dem spärlich eingerichteten Wohnzimmer des
Ehepaars Sacher und warteten gespannt auf eine Erklärung.
"Friederike war auf derselben Station im Entzug", erzählte
Jakob. "Wir lernten uns dort kennen und lieben. Ohne sie
hätte ich es niemals durchgestanden."
"Ich ohne ihn auch nicht", unterbrach Friederike.
"Da ich aber wusste, dass Vater eine Hochzeit mit einer Ex-
Drogensüchtigen niemals gutheissen würde", übernahm
Jakob wieder das Wort, "heirateten wir heimlich. Leider
konnte ich mich nicht melden, bevor alles geregelt war,
aber ich wusste, Olivia, dass du Wege finden würdest,
um mich zu finden, und so hinterliess ich im Casa Mar-
cello eine Nachricht, falls deine Suche dich bis dorthin
führen sollte. Gestern war die amtliche Trauung, das
heisst, dass ich mich und meine Braut nicht mehr länger
zu verstecken brauche."
"In einem Monat findet noch eine kirchliche Zeremonie
statt", ergriff Friederike wieder das Wort. "Da ist die
ganze Familie mit eingeladen. Wir schicken die offiziel-
len Einladungen noch mit der Post."
"Tja", machte ich, "da kann ich nur gratulieren."
Olivia blickte mich an. "Danke, Herr Torso", sagte sie.
"Ich werde es auf die Rechnung setzen", erwiderte ich.
Erstaunlicherweise erhielt auch ich- wohl noch im letzten
Moment- eine Einladung zu der kirchlichen Trauung. Ich
nahm diese erfreut zur Kenntnis und tat, was auch Philip
Maloney in einer solchen Situation getan hätte: Ich blieb
zuhause.
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