Lucille Holm empfing mich an ihrem Swimmingpool, was wohl
keine Absicht war, sondern eher daran lag, dass ich zwanzig Mi-
nuten zu früh aufgetaucht war. Zu neugierig war ich darauf, zu
erfahren, wie diese Frau wohl war, die von den Medien als
"Kim Kardashian der Schweiz" bezeichnet wurde. Mit Karda-
shian hatte sie die ausladenden Kurven und das lange, dunkle
Haar gemeinsam, sie war aber kleiner, als ich sie mir vorge-
stellt hatte. Und sie schien ziemlich unempfindlich zu sein,
denn es war erst März und immer noch ziemlich frisch, trotz-
dem ging sie in den Swimmingpool.
"Herr Torso", sprach sie mich an, nachdem ihr Hausmädchen,
ein zierliches, junges Ding mit blonden Zöpfen, mir meine Jacke
abgenommen und mich zu meiner potentiellen Klientin geführt
hatte. "Sie sind zu früh."
"Lieber zu früh als zu spät", meinte ich. "Ihrer Mail entnahm
ich, dass es um Diebstahl geht."
"Genau", sagte sie. "Lassen Sie mich kurz abtrocknen, dann
gehen wir rein. Der Pool ist beheizt, aber hier draussen ist es
immer noch kühl."
Sie war also doch nicht ganz so hartgesotten, wie ich zuerst
dachte. In der Villa, die sie bewohnte angekommen, führte sie
mich zu einer Vitrine, in welcher einige Münzen ausgestellt
waren.
"Sehen Sie die Lücke?" fragte sie. "Da sollte mein wertvoll-
stes Sammlerstück sein: eine spanische Dublone von 1644."
"Von welchem Wert sprechen wir?" fragte ich.
"Ungefähr 200.000 Franken", antwortete sie.
"Und die sind hier einfach so ausgestellt? Frei zugänglich?"
"Die wenigsten Menschen wissen um diesen Wert", meinte sie,
"deshalb konnte ich das riskieren."
"Aber irgend jemand schien den Wert doch zu kennen, und dass
nichts abgeschlossen war, grenzt die Menge an Verdächtigen
alles andere als ein..."
"Ich habe nicht viel Besuch", meinte sie. "Meist sind lediglich
mein Mann Gunter, unser Butler Edgar und Mary, das Haus-
mädchen, hier. Sie alle wohnen im Haus."
"Wer wusste am ehesten um den Wert der Münze?"
"Wahrscheinlich mein Mann. Aber wozu sollte er sie klauen?
Sein Geschäft- er ist Plattenproduzent- läuft gut, und selbst
wenn nicht... Mein Einkommen aus meinen Tätigkeiten auf
Instagramm und meinen Modelaufträgen reicht gut für uns
beide aus..."
"Wann bemerkten Sie den Verlust?"
"Heute morgen, als ich mir meinen Morgenkaffee holen ging.
Das war so um fünf. Ich bin Frühaufsteherin."
"Und Ihr Mann?"
"Schläft meistens bis mittags. Mit den Musikern, mit denen er
arbeitet, ist morgens nicht viel los, das sind eher Nachttypen."
"Ich bräuchte von allen eben erwähnten Personen die vollen
Namen", meinte ich und zückte Notizbuch und Kugelschreiber.
"Natürlich", machte sie. "Der Butler, Edgar Reeder, ging auf
die Butlerschule in England, also ein Profi. Er steht seit drei
Jahren in unseren Diensten, also eigentlich in denen meines
Mannes, er ist offiziell sein Arbeitgeber. Und das Hausmäd-
chen, Mary Frankenstein..."
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, als ich den Na-
men hörte.
"Seien Sie ihr gegenüber vorsichtig", mahnte Lucille mich,
"sie mag es nicht, wenn wegen ihres Namens gelacht wird."
"Ich versuche, mich zurückzuhalten", versprach ich. "Sind
alle diese Personen zur Zeit im Haus?"
"Nur Mary. Edgar hat seinen freien Tag, er ging bereits ge-
stern um fünf. Er übernachtet dann bei seiner Mutter, da-
mit deren Pflegerin auch mal frei hat. Und mein Mann ist
bei einer Aufnahmesession. Er arbeitet mit Bligg an einem
Projekt."
"Dann kann ich heute wohl nicht mehr viel tun", meinte ich
und versprach, am nächsten Tag vorbeizukommen, wenn
die Anderen auch anwesend sein würden.
Unterwegs ging ich noch bei Aldi vorbei, um mir etwas fürs
Abendessen zu kaufen. Als ich bezahlen wollte, griff ich in
meine Jackentasche und stellte fest, dass etwas darin war,
was dort nicht hingehörte. In diesem Moment hatte ich den
Fall gelöst!
Am nächsten Morgen staunte Lucille nicht schlecht, als ich
ihr die vermisste Dublone überreichen konnte.
"Wo haben Sie sie gefunden?" fragte sie.
"Wo ich niemals gesucht hätte", meinte ich. "In meiner eige-
nen Jackentasche."
"Wie bitte?"
"Sie haben richtig gehört, in meiner Jackentasche. Und ausser
mir hatte nur eine Person meine Jacke in der Hand und die
Möglichkeit, die Dublone heimlich in die Tasche zu stecken,
damit sie nicht bei ihr gefunden würde. Und das war Mary,
das Hausmädchen."
"Mary!" rief Lucille. Das Hausmädchen erschien.
"Wie erklären Sie mir das?" fragte Lucille und zeigte Mary die
Dublone.
"Oh, sie ist wieder da", machte Mary.
Sie wussten die ganze Zeit über, wo die Dublone war", sprach
ich sie an. "Sie mussten sie verstecken oder gar loswerden, und
da kam Ihnen meine Jacke gerade gelegen. Leugnen ist zweck-
los, Sie waren die Einzige, die meine Jacke ausser mir berührt
hatte..."
"Ich... ich...", stammelte Mary und begann zu weinen. "Ich möch-
te heiraten, doch mein Gehalt reicht nur gerade für einen Drittel
der Kosten, und mein Verlobter hat auch nicht viel...Als ich er-
fuhr, wie viel die Dublone wert ist, fasste ich den Plan, sie zu
verkaufen. Aber dann ging alles zu schnell... Zu schnell war ein
Detektiv da, und der fand sie auch zu schnell... Ich hatte gehofft,
ich könnte die Dublone heimlich wieder zurückholen..."
"Und wie?" fragte ich. "Etwa durch einen Einbruch bei mir?"
"Das wusste ich noch nicht. Es war keine wirklich durchdachte
Handlung."
"Na, die Glühbirne, die Ihnen Ihre Ideen zeigt, ist wohl eher eine
Sparlampe..."
"Ach, Mary", meinte Lucille. "Warum reden Sie denn nicht mit
mir? Ich hätte Ihnen doch eine Lohnerhöhung geben können,
wenn Sie gefragt hätten. Oder Ihnen mit der Hochzeit sonstwie
unter die Arme greifen..."
"Ich... ich hatte Angst, Sie würden 'Nein' sagen..."
"Ich denke", warf ich ein, "das müssen Sie beide unter sich aus-
machen. Mein Job ist getan. Sie werden aber hoffentlich verste-
hen, Mary, dass ich meine Jacke heute lieber selber hole..."
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