Emil Elch war der Typ Mann, dessen blosses Erscheinen
bereits erschreckend wirkte. Er war ein Hüne, zwei Me-
ter gross und irgendwas zwischen 90 und 100kg schwer,
wobei das meiste Gewicht aus Muskeln bestand. Mit
dem langen, strähnigen, blonden Haar und dem buschi-
gen Schnauzbart, den er trug, glich er einer Mischung
aus einem kriminellen Schläger und Hulk Hogan. Und
dieser Typ sass mir in meinem Büro in der Gerechtig-
keitsgasse gegenüber.
"Ich brauche Ihre Hilfe, Herr Torso", sagte er. Seine
Stimme klang rauchig.
"Erzählen Sie erst mal", bat ich ihn.
"Nun, ich kam gestern aus dem Knast", begann er. "Ich
wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen."
"Weswegen sassen Sie?"
"Totschlag im Affekt. Im Kittchen habe ich gelernt,
mich besser zu beherrschen. Sie brauchen also keine
Angst zu haben."
"Angst und Geld habe ich eh nie. Und weiter?"
"Als ich nach hause kam, freute ich mich darauf, meine
Frau wieder in die Arme schliessen zu können..."
"Lassen Sie mich raten: Sie war nicht mehr da..."
"Nichts mehr von ihr. Sie scheint ausgezogen zu sein.
hat alles mitgenommen..."
"Sie möchten, dass ich sie finde. Und was dann?"
"Ich möchte mich mit ihr aussprechen, möchte wisssen,
was geschehen ist und ob ich noch eine Chance bei ihr
habe."
"Was können Sie mir über ihre Frau erzählen?"
"Sie heisst Wilma", begann er. "Als ich sie kennenlern-
te, war sie Tänzerin in einem Club in der Aarberger-
gasse. Ich wollte dort nachfragen, aber der Club ist
nicht mehr dort."
"Ich glaube, der hat seinen Standort gewechselt", unter-
brach ich ihn. "Haben Sie sonst noch irgendwo gesucht?"
"Nein, ich hätte nicht gewusst, wo."
"Können Sie mir Ihre Frau beschreiben? Oder haben
Sie ein Bild von ihr dabei?"
"Ich hatte dieses Foto die ganze Zeit über bei mir",
antwortete er und überreichte mir eine Fotographie,
auf der eine schlanke, vollbusige Blondine mit brau-
nen Augen zu sehen war.
"Ich bräuchte noch ungefähre Angaben zu ihrer Grös-
se", meinte ich.
"Ziemlich gross", antwortete er. "So um die 1,80m."
"Das ist immer noch kleiner als wir beide", grinste
ich. "Gibt es Orte, an denen sie sich gerne aufhält?
Oder Personen, die wissen könnten, wo sie ist?"
"Wir sind beide Einzelgänger, hatten nie viele Freun-
de", meinte er. "Mit ihrer Familie hatte sie den Kon-
takt abgebrochen. Ihre Eltern waren von ihrer Karrie-
re als Tänzerin alles andere als angetan. Was ich
aber noch weiss, ist, dass sie gerne in den Botanischen
Garten ging. Sie setzte sich immer gerne auf den
Rand des Beckens mit den Riesenseerosen, in der
Hoffnung, einmal die Schildkröte zu erblicken, die
dort drin leben soll."
"Die habe ich auch noch nie gesehen", lachte ich. "Aber
immerhin habe ich nun einen Anhaltspunkt."
Es brauchte etwas Detektivarbeit, um den Club wieder-
zufinden, der früher mal an der Aarbergergasse war,
insbesondere, da ich dessen Namen nicht mehr wusste.
Aber es gelang mir, durch gezieltes Bummeln durch
die Stadt, ihn wieder ausfindig zu machen. Wie es sich
für ein Etablissement dieser Art gehört, öffnete er erst
am Abend. Ich wartete also noch ein paar Stunden,
genehmigte mir einen BigMac und eine Cola und
kehrte dann zum Club zurück. Es waren noch nicht
viele Leute da, die hübscheren Girls würden wohl erst
später auftreten. Diejenige, die auf der Bühne ihre
Auffassung von Tanz zeigte, war eher mittelmässig,
passend zum Gesicht des Barkeepers, der sich zu lang-
weilen schien.
"Wie geht's, wie steht's?" fragte er mich aufgesetzt freund-
lich.
"Keine Ahnung", antwortete ich. "Hab's heute noch nicht
probiert."
Er lachte. "Na, vielleicht wird dir ja hier geholfen", meinte
er.
"Da braucht's schon bessere Kaliber", entgegnete ich. "Ich
bin auf der Suche nach Wilma. Gibt's die noch?"
"Die arbeitet nicht mehr hier. Es gibt da so 'n Club am
Kornhausplatz. Ich glaube, sie ging dorthin."
"Vielen Dank", sagte ich und legte ihm einen Schein auf den
Tresen.
Der Club am Kornhausplatz war glücklicherweise bereits geöff-
net, als ich ankam. Ich hatte sogar das Glück, dass der Türste-
her mich reinliess. Der Barkeeper dort hatte den genau gleichen
Gesichtsausdruck wie der andere auch, war aber besser angezo-
gen. Ich trat zu ihm an die Theke.
"Was zu trinken?" fragte er mich.
"Cola", bestellte ich. "Ohne Eis."
"Mit Zitrone?"
"Nee, sonst werd' ich sauer. Und ich möchte heute möglichst
süss wirken."
"Einer von der lustigen Sorte, was?"
"Mit 'ner schwarzen Mütze auf 'm Kopf könnte ich mich als
Torsten Sträter ausgeben."
"Der ist aber etwas älter."
"Mag sein. Ich suche Wilma. Ist sie hier?"
"Wilma arbeitet nicht mehr hier. Sie ist zu ihrem Horst."
"Horst? Ich wusste nicht, dass Wilma ein Adler ist..."
"Horst heisst ihr Freund. War Rausschmeisser in dem Club,
in dem sie vorher gearbeitet hat. Hat kürzlich geerbt, da hat
Wilma bei uns gekündigt und ist zu ihm gezogen."
"Und wo ist das?"
"Irgendwo in Uetendorf. Ich hab' die Adresse aufbewahrt.
Einen Moment, bitte..."
Er ging kurz weg, und als er zurückkam, gab er mir einen
Zettel. Es sah ganz so aus, als ob ich nach Uetendorf müsste.
Ich stieg in Uetendorf aus dem Zug und entdeckte einen Post-
boten, den ich nach der Adresse fragte.
"Oh", meinte der, "zu Fuss zieht sich das hin. Da fahren Sie
am besten mit dem nächsten Zug noch eine Station weiter
bis Uetendorf-Allmend, dann sehen Sie das Haus gleich,
wenn Sie aussteigen."
Also wartete ich auf den nächsten Zug und las mir während-
dessen eine liegengebliebene Pendlerzeitung durch. Als
ich an der nächsten Station ausstieg, hatte ich tatsächlich
keine Schwierigkeiten, die Adresse zu finden. Allerdings
tauchte ein anderes Problem auf. Es war ein Mehrfamilien-
haus, und eine Wilma Elch war nirgendswo auf Briefkästen
oder Klingeln angeschrieben. Die Namen der Bewohner
waren H. Berger, H. Blaschke und H. Frautschi. Hinter wel-
chem dieser H's verbarg sich ein Horst? Da die Haustür ver-
schlossen war, konnte ich nicht einfach ins Treppenhaus spa-
zieren und hoffen, dass die Vornamen an den Klingeln drin
ausgeschrieben waren. Ich sah mir die Briefkästen an. Derje-
nige von H. Berger wirkte neutral, etwas schmutzig zwar,
aber keine Aufkleber oder so was in der Art. Bei Blaschke
klebte ein Sticker, der besagte, dass in diesen Kasten keine
Werbung kommt. Und auf dem Briefkasten "H. Frautschi"
prangte ein Aufkleber, der eine rasende Schildkröte zeigte.
Es war gewagt, aber ich versuchte es und klingelte bei Fraut-
schi. Immerhin soll die Frau stundenlang im Botanischen Gar-
ten gesessen haben, um eine Schildkröte zu Gesicht zu bekom-
men, die sich in einem Teich voller Riesenseerosen versteckt.
Um so was fertig zu bringen, muss man schon eine gewisse
Faszination für diese Tiere entwickelt haben.
"Ja, bitte?" hörte ich eine Frauenstimme über die Gegensprech-
anlage.
"Einschreiben", sagte ich und wartete. Kurz darauf erschien
sie im Treppenhaus und öffnete die Haustür: Wilma Elch.
"Sie sind aber nicht der Postbote", stellte sie fest.
"Privatunternehmen", antwortete ich, was noch nicht mal gelo-
gen war. "Mein Name ist Roman Torso. Dürfte ich kurz mit
Ihnen sprechen?"
Es gelang mir, Wilma zu einem Treffen mit Emil zu überreden,
allerdings nur an neutralem Ort und im Beisein von mir und
ihrem neuen Freund Horst. Horst Frautschi war, wie man es
sich von einem Rausschmeisser erwartet, gross und kräftig,
allerdings schienen seine Haare schon lange vor ihm in den
Urlaub gefahren zu sein, er hatte nämlich eine glänzende
Glatze. Der Ort, an dem wir uns zu viert trafen, war das Re-
staurant "Kakadu" in Uetendorf, wo wir uns im Wintergarten
des Lokals aufhielten. Zwischen zwei solchen Hünen und
einer Frau, die mit ihren Möpsen einen kleinen Hund hätte
umbringen können, kam sogar ich mir ziemlich klein vor.
Glücklicherweise ging alles glatt, Emil und Wilma konnten
sich aussprechen, und Emil, der mir fast ein bisschen leid
tat, stimmte zu, die Scheidungspapiere zu unterzeichnen,
damit Wilma mit ihrem Horst ein neues Leben anfangen
konnte. Aus reiner Gutherzigkeit berechnete ich ihm ein
vergünstigtes Honorar, da er später noch genügend würde
bezahlen müssen...
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