Dienstag, 17. März 2020

Kurzgeschichte: "Happy Birthday hoch Drei"

Das Gebäude sah nicht unbedingt wie eine Jugendpsychiatrie
aus, jedenfalls nicht, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Dr. Josef
Bohlen, einer der leitenden Psychiater hingegen, entsprach voll-
ständig meinen Klischeevorstellungen. Er war ein älterer Herr,
der Anzug und Krawatte trug und alles in allem einen so gut-
situierten Eindruck machte, dass er in der Klinik Neuhaus, der
Jugendabteilung der Waldau, irgendwie fehl am Platz wirkte.
Bildergebnis für upd waldau klinik neuhaus
"Das Problem ist kompliziert, Herr Torso", begann er.
"Komplizierter als Ihr Krawattenknoten wird's wohl kaum wer-
den", entgegnete ich.
"Einer unserer stationären Patienten, Tom Hügli, ist verschwun-
den", erklärte er.
"Und warum übernimmt das nicht die Polizei?" fragte ich.
"Tom Hügli ist Polizistensohn. Sein Vater hat ihn misshandelt,
ihn geprügelt, wenn Tom nicht spurte. Daher hat Tom einen
tiefen Hass auf uniformierte Personen entwickelt. Wir wissen
nicht genau, wie er reagiert, wenn er einen Polizisten sieht,
insbesondere da er ohne seine Medikamente verschwunden
ist..."
"Der Grund für die Medikation?"
"Tom ist eine Multiple Persönlichkeit. Normalerweise ist er harm-
los. Er hat aber zwei weitere Persönlichkeiten, Tim und Jim. Tim
ist selbstzerstörerisch, er ritzt sich. Und Jim... wenn Jim hervor-
tritt, wird er gefährlich. Jim ist aggressiv gegenüber seiner Um-
welt."
"Gut zu wissen. Haben Sie ein aktuelles Foto des Jungen?"
"Natürlich."
Er gab mir ein Bild, das einen auf den ersten Blick normal wirken-
den Jüngling mit braunem, halblangem Haar zeigte.
"Wie erkenne ich, mit welcher Persönlichkeit ich es zu tun habe,
wenn ich ihn finde?" fragte ich.
"Tom ist ein normaler Junge und verhält sich auch so. Tim ist eher
verschüchtert, spricht kaum. Und Jim... Jim spricht mit ausländi-
schem Akzent und pöbelt überall rum. Sie erkennen den Unter-
schied an der Körpersprache."
"Eine Idee, wo er sein könnte?"
"Nein. Ich weiss lediglich, dass er gerne Wasservögel beobachtet.
Er sagt, das beruhigt ihn."
"Was ist mit den Eltern?"
"Sind beide verstorben. Er hat einen älteren Bruder, aber der ist
beruflich viel unterwegs."
"Haben Sie Kontaktdaten?"
"Klar. Brauchen Sie die?"
"Ich brauche einen Anhaltspunkt, um mit der Suche beginnen zu
können."
"Ich schreibe Ihnen die Telefonnummer raus", meinte er.

Ich verabschiedete mich von Dr. Bohlen und versuchte, den älte-
ren Bruder des verschwundenen Jungen ans Telefon zu kriegen.
Sein Name war Xavier. Beim dritten Versuch nahm er endlich
den Hörer ab. Leider wusste er auch nicht, wo Tom sein könnte.
Ich überlegte mir, wo ich in der Nähe wohl auf Wasservögel tref-
fen könnte. Da ich bei dem kleinen Tiergehege der Waldau, in
dem immerhin ein Laufentenpaar gehalten wird, kein Glück hat-
te, dehnte ich die Suche aus.

Da ich nicht in alle Richtungen gleichzeitig die Ententeiche ab-
klappern konnte, bat ich drei Kollegen um Hilfe: Klemens
Nötzli, Viktor Krauss und Moritz Loeb. Einer suchte westlich,
einer östlich, einer nördlich und einer südlich der Waldau, und
zwar über die Gemeindegrenzen hinweg. Diesmal war ich der-
jenige, der Glück hatte. Ich musste bis zurück in die Stadt, aber
dort fand ich ihn. Tom Hügli sass wie ein ganz normaler Teen-
ager auf einer Bank neben dem Ententeich auf der Kleinen
Schanze und ass einen Kuchen, auf dem drei Kerzen steckten.
Ich trat zu ihm hin.
"Hey", sprach ich ihn an. "Darf ich mich dazu setzen?"
"Wenn Sie wollen", meinte er.
"Hast du Geburtstag?" fragte ich mit Blick auf die Kerzen.
"Werde heute 18", antwortete er.
"Gratuliere", sagte ich. "Willst du die Kerzen nicht anzünden?"
"Hab' kein Feuer."
"Mist, ich auch nicht."
Als eine hochhackige Frau vorbeitrippelte, quatschte ich diese
an: "Entschuldigen Sie, bitte. Der Junge wird heute 18, und
wir haben kein Feuer dabei. Hätten Sie was, um die Kerzen
anzuzünden?"
"Aber gerne", meinte die Frau und zückte ihr Feuerzeug.
"Vielen Dank", sagte Tom. "Möchten Sie beide mitessen? Der
Kuchen muss weg, und für mich ist ein ganzer Kuchen eh zu-
viel."
"Aber gerne", sagte die Frau.
"Danke", sagte ich.
Die Frau ass ihr Stück und ging dann weiter, sie wollte zum
Markt, Grünzeug für ihre Kaninchen und Meerschweinchen
holen. Ich blieb bei Tom sitzen.
"Wieso drei Kerzen?" fragte ich.
"Habe drei Persönlichkeiten", erklärte er frei von der Leber weg.
"Oh...", machte ich.
"Eine ist selbstzerstörerisch, eine gefährlich und eine harmlos."
"Und welche Persönlichkeit bist du jetzt?"
"Die harmlose Persönlichkeit."
"Bist du in Behandlung?"
"Klar. Nur werde ich morgen verlegt. Von der Jugend- in die Er-
wachsenenpsychiatrie."
"Macht dir das Angst?"
"Nee. Wird auch nicht viel anders sein als bei den Kids."
"Dann wolltest du nur in Freiheit deinen Geburtstag feiern?"
"Erraten!"
Es wurde Zeit, mich erkennen zu geben. Ich hielt ihm meine
Schnüfflerlizenz vor die Augen.
"Roman Torso, Privatdetektiv", stellte ich mich vor. "Ich mach'
dir einen Vorschlag... Ich lasse dir deinen Geburtstag und war-
te bis Mitternacht. Dann ist der heutige Tag offiziell vorbei und
du kommst mit mir zurück in die Klinik. Ist das ein Angebot?"
"Ich wäre morgen früh so oder so zurück dorthin", meinte er.
"Nur, dass die das dort nicht wussten und schon das Schlimmste
befürchteten. Man weiss ja, wie Psychiater so sind..."
Er lachte, und wir hatten einen Deal. Die paar Stunden würden
Dr. Bohlen und die Klinik Neuhaus schon noch warten können.
Wer bin ich denn, dass ich mit einem Mal gleich drei Persönlich-
keiten den Geburtstag vermiesen würde...?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen