Dienstag, 14. April 2015

Kurzgeschichte: Ilex aquifolium


Es war eine jener Villen, die sich nur die wirklich Wohlhaben-
den leisten konnten, doch das machte den Anblick einer Leiche
nicht angenehmer, auch wenn Kommissar Kupfer, nach so
vielen Jahren in der Mordkommission, schon so manche Leiche
gesehen hatte. Die Frau war etwa 45, sonnengebräunt und
blond, und lag mit dem Kopf auf dem Tisch, auf dem sich ein
Glas und ein Teller mit einer roten Geléemasse befanden.
Von dieser schien das Opfer noch gegessen zu haben. Ein
Löffel lag am Boden, wohl aus der Hand gefallen, als der
Exitus eingetroffen war. Kupfer roch an der Gallertmasse.
"Riecht süss. Was ist das?"
"Rote Grütze", meldete sich Frau Dr. Anja Liam, rothaarig,
dick und gebürtige Deutsche, zu Wort. "Das kennt man hier
in der Schweiz nicht."
"Jedenfalls sieht es so aus, als ob sie damit vergiftet wurde."
"Ich werde es analysieren lassen, ebenso wie den Magen-
inhalt des Opfers."
"Wissen wir schon, wer das Opfer war?"
Die Frage war in den Raum gestellt, in der Hoffnung, einer
der anwesenden Polizisten würde die Antwort liefern.
Aber es war erneut Frau Dr. Liam, die antworten konnte:
"Mit dieser Info kann ich dienen. Die Dame hiess Cornelia
von Thurnen und arbeitete bei der Deutschen Botschaft.
Als ich in die Schweiz kam, musste ich, der Papiere wegen,
bei ihr vorsprechen."
"Also war sie in einer Position tätig, in der sie sich einige
Feinde machen konnte..."
"Davon können Sie wohl ausgehen."
Kupfer blickte sich um und rief seinen Assistenten zu sich:
"Töpfer!"
Polizeioberleutnant Töpfer trat zu ihm, Papier und Blei-
stift bereits zur Hand und erwartete seine Anweisungen.
"Setzen Sie sich mit der Deutschen Botschaft in Verbindung",
begann Kupfer zu instruieren. "Unterrichten Sie sie davon,
dass Frau Cornelia von Thurnen mit ziemlicher Sicherheit
ermordet wurde. Lassen Sie sich eine Liste all jener Leute
geben, die in letzter Zeit bei ihr vorsprechen mussten, ins-
besondere jener, deren Anliegen abgeschmettert wurden."
"Chef!" erklang eine Frauenstimme aus dem angrenzenden
Zimmer. "Hier ist was!"
Kupfer betrat das Zimmer, während Töpfer sich bereits auf
den Weg zur Deutschen Botschaft und Frau Dr. Liam in die
Rechtsmedizin machten. Die Stimme gehörte Sarah Rahm,
einer jungen, aufstrebenden, zwar ziemlich molligen, aber
hübschen Polizistin. Obschon sie schon einige Jahre in seiner
Abteilung arbeitete und einigen Polizisten dort mit ihren Kur-
ven, wenn auch unabsichtlich, den Kopf verdrehte, wusste
Kupfer immer noch nicht, welches ihre natürliche Haarfarbe
war. Sie war bereits brünett, rot, rotbraun und rotblong gewe-
sen, nun war sie ganz blond. Sie deutete auf eine alte Schreib-
maschine, die auf einem Schreibtisch stand.
"So was sieht man nur noch im Museum", meinte sie mit
ihrem Luzerner Akzent. "Aber wir haben hier nirgends
beschriebenes Papier finden können. Wäre sicher interessant,
zu wissen, was sie so geschrieben hat."
Kupfer trat näher und sah sich die Maschine an.
"Eine mechanische Schreibmaschine", stellte er fest. "Das
Farbband ist noch drin. Anhand der Abdrücke darauf können
wir feststellen, was zuletzt geschrieben wurde. Nehmen Sie
das Farbband mit."
"Wie nimmt man das raus?"
Kupfer schmunzelte. Als er so jung war wie Sarah Rahm,
wurde nur auf mechanischen Schreibmaschinen getippt,
aber sie war nun mal ein Kind des Digitalzeitalters.
"Ach, wissen Sie", meinte er dann, "nehmen Sie ruhig
die ganze Maschine mit. Schadet sicher nicht, wenn wir
sie auch gleich auf Fingerabdrücke untersuchen."
Sarah tat, wie ihr aufgetragen wurde, und Kupfer sah sich
den Rest des Hauses an, ohne noch mehr Interessantes auf-
zufinden.
Im Garten aber traf er auf einen jungen, blonden Mann, der
auf einer Leiter stand und Zweige einer Stechpalme ab-
schnitt. Der Boden war mit grünen, stacheligen Zweigen
übersät. Kupfer musste aufpassen, wohin er trat, als er sich
dem Mann näherte. Er zückte seinen Ausweis.
"Kriminalpolizei. Darf ich fragen, wer Sie sind und was
Sie hier tun?"
"Markus Peters", antwortete der Mann leicht mürrisch und
mit einem Akzent, der Kupfer vom Fernsehen her vertraut
vorkam. "I bin holt hier der Gärtner, gee."
"Darf ich fragen, woher Sie stammen?"
"Jo mei, Bayern halt."
Kupfer war sich nicht sicher, ob es sich bei dem Dialekt
wirklich um reines Bayerisch handelte; vielleicht war dieser
Herr Peters auch schon eine Weile in der Schweiz und es
hatten sich irgendwelche Dialekte hineingemischt. Aber
Kupfer war ja auch nicht unbedingt ein Dialektexperte.
"War Frau von Thurnen ihre Chefin?"
"Jo mei, schon."
"Sie wissen, was passiert ist?"
"I bin vorher erst gekommen und hob angfang'n mit der
Arbeit. Aber i sah die Polizeiautos und hob mer halt so
mei Gedanken gmacht."
"Nun, es sieht ganz so aus, als ob Frau von Thurnen ver-
giftet wurde."
"Vergiftet? Mei nomol! Ist sie...?"
"Tot? Ja. Ich fürchte, Sie werden sich eine neue Anstel-
lung suchen müssen."

Kupfer sass in seinem Büro und betrachtete das Farbband
der sichergestellten Schreibmaschine, als es an der Türe
klopfte.
"Herein!"
Die Türe öffnete sich, und Frau Dr. Liam schob ihre mas-
sige Gesalt hinein.
"Die toxikologische Untersuchung", begann sie, "hat hoch-
konzentrierte Spuren von Thujon und Taxin festgestellt."
"Und das heisst?"
"Nun, Thujon kommt in verschiedenen Pflanzen vor, unter
anderem auch in Wermut und Thuja. Aber auch in Taxus
baccata, der Eibe, deren Hauptgift Taxin ist. Der einzige
nicht giftige Pflanzenteil ist der rote, süsse Samenmantel,
die Eibenbeere. Deren Kern aber, der Samen, ist wiederum
hoch giftig."
Töpfer betrat das Büro und wedelte mit ein paar Papieren.
Neben der fülligen Frau Doktor sah der eigentlich drahtige
Leutnant eher schmächtig aus.
"Der Laborbericht", erklärte er. "Raten Sie mal, was da
drin steht..."
"Die Rote Grütze war aus Eibe?"
"Woher wussten Sie...?"
Kupfer schmunzelte, wurde aber umgehend wieder ernst:
"Könnte sie die Grütze freiwillig zu sich genommen haben?"
"Um Selbstmord zu begehen?" fragte Frau Dr. Liam. "Wozu
sollte sie sich dazu, diese Mühe gemacht haben? Auf dem
Grundstück steht noch nicht einmal eine Eibe. Aber andere
Giftpflanzen. Sie hätte sich beispielsweise bloss Beeren von
Ilex aquifolium in den Mund stecken müssen..."
"Wovon?"
"Ilex aquifolium. Stechpalme."
"Warum müssen Akademiker immer lateinische Ausdrücke
brauchen?"
"Nicht nur Akademiker, Chef. Gärtner zum Beispiel gebrau-
chen untereinander international die wissenschaftlichen Na-
men der Pflanzen, da diese im Volksmund überall zu unter-
schiedlich heissen. Den Gärtner dort hätte ich aber gefeuert.
Ich hab' ihn gefragt, wozu er die Stechpalme schneide, und
er reagierte äusserst mürrisch. Ganz anders als die meisten
anderen Oesterreicher, die mir bisher begegneten."
"Oesterreicher? Mir sagte er, er wäre Bayer."
Frau Dr. Liam lachte. "Niemals", meinte sie. "Der war
noch nicht mal Deutscher. Das war ganz klar ein öster-
reichischer Dialekt, wenn auch mit sehr viel schweizer-
deutschem Einschlag drin."
"Also, ich verwechsel bayrisch und österreichisch immer",
meldete Töpfer sich zu Wort.
"Das passiert vielen Schweizern", meinte Frau Dr. Liam.
"Aber wieso", fragte Kupfer sie, "hätten Sie den Gärtner
gefeuert? Er machte doch einen ganz anständigen Ein-
druck."
"Aber er scheint sich nicht wirklich auszukennen. Stech-
palme braucht normalerweise keinen Rückschnitt."
In diesem Moment klopfte es erneut. Polizeichef Kasper
betrat das Büro. Mit seinem früh ergrauten Haar sah er
sowieso schon älter aus, als er wirklich war, doch dies-
mal kam noch dazu, dass man ihm ansah, dass er zuwenig
geschlafen hatte.
"Sie arbeiten doch an dem Fall von Thurnen?" fragte er.
"Ja, "antwortete Kupfer. "Und?"
"Ich erhielt Anrufe von ganz oben. Der Sicherheitsdirektor,
der Justizminister, der Verteidigungsminister. Alle wiesen
mich an, den Fall ad acta zu legen. Der Nachrichtendienst
würde ihn übernehmen."
"Tja", seufzte Kupfer und liess die ihm soeben überbrachten
Dokumente klammheimlich von seinem Schreibtisch in die
oberste Schublade verschwinden. "Da kann man wohl nichts
machen. Ach, Frau Doktor, bevor Sie gehen: Wie lautete
nochmal der botanische Name dieser Pflanze?"
Wie? Ach so. Ilex aquifolium."
"Danke, das war's dann. Vielen Dank. Die Sache ist hier-
mit erledigt."
Als er wieder alleine im Büro war, notierte sich Kupfer
die Bezeichnung Ilex aquifolium auf ein Notizblatt, dann
sah er sich das Farbband weiter an und schrieb ab, was er
an Text darauf entdeckte:
"Das Leben und die Arbeit für den Geheimdienst ist von
vielen Mythen umgeben, doch die meisten davon sind
bloss Märchen. In diesem Buch möchte ich mitb einigen
von ihnen aufräumen. Schliesslich gehöre ich zu denje-
nigen, die es wissen müssen, war ich doch selber..."
Hier endete der Text. Kupfer pfiff durch die Zähne.
"Das ist ja mal ein starkes Ding", meinte er zu sich sel-
ber. Er stand auf, griff zu seinem Mantel und seinem
Regenschirm, den er sicherheitshalber gerne dabei hatte,
und wandte sich an seinen Assistenten: "Töpfer, ich
mache heute mal früher Feierabend. Bis morgen."

Aber Kupfer ging nicht gleich nach Hause. Sein Weg
führte ihn zurück zu der Villa, wo er, wie er erhofft
hatte, den Gärtner noch antraf. Er war dabei, eine Ra-
batte unter einem der Fenster auszujäten. Kupfer trat
zu ihm hin.
"Herr Peters?"
Der Gärtner erschrak.
"Entschuldigen Sie bitte", machte Kupfer. "Ich wollte
mir nur nochmal kurz ihren Ilex aquifolium anschauen."
"Mein wos?"
"Ilex aquifolium. Ihre Stechpame."
"Ach so, ja", murmelte Peters. "An Moment, bittschön.
I mecht' erst no des Beet fertig ausjäten."
Kupfer griff in die Rabatte. "Ist dies nicht auch Un-
kraut?" fragte er und grub eine Milchdistel aus.
Darunter kam etwas kleines, metallenes zum Vor-
schein.
"Schau an, schau an", meinte Kupfer. "Ich bin ziemlich
sicher, dass dies ein Abhörgerät ist. Ich bin auch ziem-
lich sicher, dass Sie weder Gärtner noch Bayer sind.
Sie arbeiten für den Nachrichtendienst, nicht wahr?
Ihr Geheimnis bleibt bewahrt, der Fall wurde mir ent-
zogen. Aber ich weiss, dass Sie es waren."
"Selbst wenn", begann Peters, der nun ohne Akzent
sprach, "Sie können mir nichts anhaben."
"Oh, ich für meinen Teil habe den Fall gelöst",
meinte Kupfer. "Das genügt mir. Um ehrlich zu
sein: Ich bin sogar froh, dass es so gekommen ist.
Ich wüsste nicht, ob ich gegen einen solchen Geg-
ner viel ausrichten könnte. Der Nachrichtendienst
hat die Sache übernommen, und wenn Sie sich ir-
gendwo werden rechtfertigen müssen, dann dort.
Leben Sie wohl."
Diese Worte kaum ausgesprochen, machte er
rechtsum kehrt und verliess den Schauplatz,
unzufrieden zwar mit der Bürokratie, die ihn
daran hinderte, einen Mörder festzunehmen,
doch zufrieden mit sich selber, da der Fall-
zumindest für ihn- doch nicht ungelöst blieb,
auch wenn sonst keiner davon wusste.

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