Seit dem Selbstmord meines Bruders kam ich kaum
noch zur Ruhe. Ständig klingelte das Telefon oder
kam eine SMS.
Zwei mal bereits telefonierte mir seine Freundin
und weinte mir eine halbe Stunde ins Ohr. Aber
wie soll ich da helfen? Und dann machte sie auch
noch eine kirchliche Abdankung ab, ohne dies
alles mit der Familie abzusprechen. Sie hätten
sich im August beide taufen lassen, erzählte sie.
Das machte für mich keinen Sinn, denn mein Bru-
der war bereits getauft, und ich hätte nicht gewusst,
dass er aus der Kirche mal ausgetreten wäre. Mei-
ne Eltern kamen nicht, die waren sauer, damit aber
wenigstens einer von der Familie dabei war, sagte
ich mein Kommen zu, änderte dafür sogar meine
eigentlichen Pläne. Denn eigentlich hätte ich dann
einen Besuch in Deutschland mit meiner Partnerin
bei deren Eltern eingeplant gehabt.
Wie dem auch sei: Ich war also am Bahnhof jener
Ortschaft, in der mein Bruder zuletzt gewohnt hatte,
eingetroffen. Seine Freundin hätte dort die Teilneh-
menden abholen sollen, doch deren Zug hatte Ver-
spätung, sie kam erst kurz vor Beginn der Veran-
staltung an. Wie sich herausstellte, handelte es sich
um eine Freikirche, nicht um die Reformierte Kir-
che, mit der wir aufgewachsen wären. Gemeinsam
mit zwei der Pfarrerinnen oder Priesterinnen- ich
weiss nicht, wie das in Freikirchen genannt wird-
erzählte sie von sich und meinem Bruder, doch
hatten sie sich entschieden, weniger auf seinen Tod,
sondern mehr auf den Tag der Taufe einzugehen.
Bis dahin war das noch ganz okay, doch dann lief
das völlig aus dem Ruder. Als dann der Ober-
priester oder wie der heisst redete, hatte er das
Thema Feste. Er erzählte von Gerechtigkeit und
Ungerechtigkeit und von der Erlösung durch Jesus.
Da rief die Freundin meines Bruders dauernd da-
zwischen, fragte, was das solle, das stimme doch
gar nicht. Dazu muss man als Leser noch wissen,
dass sie im muslimischen Glauben aufwuchs, da
war es wohl nicht so einfach, das Konzept Jesus-
um es mal so zu nennen, ohne dabei irgendwelchen
Gläubigen auf die Zehen treten zu wollen- über-
haupt zu verstehen. Allerdings muss ich doch an-
merken, dass das weder mit meinem Bruder noch
mit einer Abdankung noch irgendetwas zu tun
hatte. Schliesslich rief sie nur noch laut aus:
"Ihr erzählt bloss Lügen! Ich werde nie wieder
eine Kirche betreten!" Es blieb uns nicht anderes
übrig, als mit ihr diese Kirche zu verlassen, bevor
es noch vollständig eskaliert wäre. Als beim Hi-
nausgehen eine ältere Dame ihr "Verschwinde,
Satan!" zurief, mussten zwei Kolleginnen meines
Bruders Freundin festhalten, damit diese nicht
handgreiflich wurde. "Nenn du mich nicht noch
einmal Satan, sonst...!" Ich ging als letzter von
unserer Gruppe heraus und entschuldigte mich
bei den beiden Pfarrerinnen. Ich konnte nichts
tun, ausser ruhig zu bleiben, denn ich habe einen
enormen Respekt vor jedwedem Glauben, ob ich
diesem nun angehöre oder nicht. Niemals würde
ich einem Menschen sagen, seine Wahrheit wäre
Blödsinn, auch dann nicht, wenn sie nicht der
meinigen entspricht. Für mich ist dies eine Frage
von Anstand und Respekt, denn ich auf beiden
Seiten vermisste. Denn alles, was nicht der eige-
nen Auffassung entspricht, als "des Satans" zu
bezeichnen, was leider viele Mitglieder von Frei-
kirchen machen, das halte ich für genau so re-
spektlos, mehr noch: In diesem Fall war es sogar
eine regelrechte Beleidigung.
Ich ging danach, während die anderen Kollegen
noch am Bahnhof blieben, auf den nächsten Zug.
Ich musste meinen Kopf durchlüften. Um doch
noch etwas von meinem Bruder zu haben, ging
ich zu jenem Gewässer, in dem seine Asche ist
und sprach dort in Gedanken mit ihm. Und noch
während ich dies tat, schwammen alle Enten auf
dem Gewässer auf mich zu. Irgendwann während
dieses Tages meinte seine Freundin noch zu mir:
"Ich verstand nie, wie er sagen konnte, sein Glau-
be wäre die Natur, aber nun verstehe ich es."
Und während all diese Enten um meinen Bruder
herum gründelten, fühlte ich mich heute nicht
nur ihm, sondern auch der Schöpfung viel näher
als während dieses Gottesdienstes.
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