Donnerstag, 28. Juni 2018

"Elsa", Kapitel 2


Elsa sass der Direktorin der Universität, einer grossen, ma-
geren Frau mit bereits schneeweissen Haaren, während ihr
Gesicht und ihr Teint kaum älter als 40 waren, gegenüber.
Ihr Name war Mühlenberger, Frau Adelheid Mühlenberger.
Elsa glaubte, noch nie einer Person mit einem so komi-
schen Namen begegnet zu sein.
"Sie möchten also bei uns studieren?" fragte Frau Mühlen-
berger und blickte ihr Gegenüber über den Rand ihrer
Brille hinweg an.
"Ja", antwortete dieses. "Philosophie."
"Wir bieten ein sehr umfangreiches Philosophiestudium
an", erzählte Frau Mühlenberger, deren Stimme einen
gewissen Stolz nicht verstecken konnte. "Aber es ist
kein einfaches Studium. Philosophie ist schwieriger, als
man gemeinhin annimmt."
"Das weiss ich", sagte Elsa. "Aber ich habe Nietzsche
und Kant gelesen, daher denke ich, dass es mir keine
allzu grosse Mühe machen wird."
Die Direktorin blickte sie an. "Sie sind ziemlich jung
für Nietzsche und Kant."
"18", bestätigte Elsa.
"Sind Nietzsche und Kant die Philosophen, die Ihnen
entsprechen?"
"Eher Erich Fromm."
"'Haben oder Sein?"
""Die Kunst des Liebens'."
"Das ist einfacher. Wen noch?"
"Sokrates."
"Warum Sokrates?"
"'Nur der ist wirklich weise, der weiss, dass er nichts
weiss.'"
Frau Mühlenberger schmunzelte. Dieses junge Mäd-
chen imponierte ihr. Dann aber wurde sie wieder ernst.
"Wie wollen Sie das Studium bezahlen?" fragte sie.
"Ich suche mir eine Teilzeitstelle", antwortete Elsa.
"Bis ich eine gefunden habe, muss ein Teil der Abfin-
dung von meinem Mann dran glauben."
"Der Abfindung von Ihrem Mann?" Frau Mühlenber-
ger hob erstaunt die Augenbrauen. Die Neugier war
ihr ins Gesicht geschrieben.
"Ich bin geschieden", erklärte Elsa.
"Oh", machte Frau Mühlenberger.
"Ist schon gut", sagte Elsa. "Ich war selber schuld. So
jung heiraten und dann noch einen 20 Jahre älteren
Mann. Es musste so kommen." Den Rest ihrer Ge-
schichte verschwieg sie.
"Das tut mir leid", sagte Frau Mühlenberger. Dann
blätterte sie in ein paar Papieren, und als sie wieder
aufschaute, sagte sie: "Ich setze Sie auf die Warteliste.
Sie haben Glück, diejenige für das Philosophiestudium
ist nicht besonders lang. Sie erhalten dann Bescheid."
Sie standen auf und verabschiedeten sich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen