Dienstag, 7. Januar 2020

Kurzgeschichte: "Die verschwundenen Brennstäbe"

Beide wirkten sehr besorgt, als sie an diesem Freitag bei
mir im Büro sassen, sowohl der Mann als auch die Frau.
Suzanne Trummer war mir noch unbekannt, eine etwa
50jährige Frau, elegant gekleidet, mit einem etwas ver-
härmten Gesichtsausdruck. Der Mann hingegen war
prominent. Urs Gutschi war immerhin Politiker, wenn
auch für mich nicht wählbar, da er der falschen Partei
angehörte. Auch an ihm war das Alter nicht spurlos
vorübergezogen, sein Haar war ergraut und sein Anzug
spannte.
"Ich bin- oder war die Chefin des Kernkraftwerks",
begann Frau Trummer.
"Das, welches stillgelegt wurde?" fragte ich.
"Genau das. Das Problem ist heikel..."
"Das ist es immer", erwiderte ich.
"Es darf nichts davon an die Medien geraten", wandte
nun auch Gutschi ein. "Das gäbe einen Skandal son-
dergleichen."
"Wir sind hier nicht im Bundeshaus", unterbrach ich ihn,
"also erzählen Sie die Geschichte bitte von Anfang an."
"Nun, Herr Torso", wollte Frau Trummer beginnen, doch
Gutschi war schneller. "Sie sind doch diskret, nicht wahr,
Herr Torso?" fragte er.
"Diskretion ist mein zweiter Vorname", behauptete ich.
"Nun, wie Sie ja wissen, wurde das Kernkraftwerk stillge-
legt", nahm Frau Trummer wieder das Wort auf. "Die
Brennelemente werden nun abgetragen und zum Zwischen-
lager gefahren. Und dort stellte sich heraus, dass nicht alle
dort ankamen."
"Und wieso nicht?"
"Sie wurden entwendet", warf Gutschi ein. "Gestohlen!"
"Und wozu?" fragte ich.
"Keine Ahnung", meinte er. "Schwarzmarkt, Spionage,
was weiss ich...?"
"Und ich soll nun also die verschwundenen Brennstäbe
finden?"
"Genau so dachten wir uns das", antwortete Frau Trummer.
"Die Verantwortlichen werden sich vor der Staatsgewalt
verantworten müssen", sprach Gutschi in typischem Poli-
tikerjargon. "Wenn allerdings irgendetwas davon an die
Oeffentlichkeit gerät, könnte es zu einem politischen Skan-
dal kommen. Gerade in dieser Zeit des Klimawahns..."
Ich hob die Hand. "Ueber politische Themen möchte ich
nicht diskutieren. Aber ich sehe das Problem. Allerdings
habe ich keine Ahnung, wie solche Brennstäbe aussehen."
"Wir haben Ihnen Fotos mitgebracht", sagte Frau Trum-
mer. öffnete ihre Handtasche, entnahm dieser einen Um-
schlag und reichte ihn mir. Nebst den Fotos war ein 1000-
Franken-Schein darin. "Wir hoffen, dass Ihnen dies als
Vorschuss reicht."
Ich pfiff durch die Zähne. So einen grossen Schein sehe
ich schliesslich selten. "Stammt dies aus Steuergeldern?"
fragte ich.
"Das tut nichts zur Sache", machte Gutschi. "Ueberneh-
men Sie den Fall?"
"Werden Sie mich sonst als Vaterlandsverräter abstem-
peln?"
"So schlimm, wie Sie wohl denken, sind wir nicht", meinte
er.
"Nicht alle", machte ich. "Na gut. Erstens bin ich ein Um-
weltfreund und zweitens Patriot. Ich fürchte, die Sache ist
zu wichtig, als dass ich nein sagen könnte."
"Wie werden Sie vorgehen?" fragte Frau Trummer.
"Ich werde mich unter die Arbeiter mischen", erklärte ich,
"da ich vermute, dass der Täter unter ihnen zu finden ist.
Können Sie veranlassen, dass ich als neuer Mitarbeiter ein-
geführt werde?"
"Ja, das lässt sich machen", sagte sie. "Die Arbeiter fangen
montags um acht Uhr wieder an. Ich kann sie hinfahren."
"Danke, das wäre sehr nett. Und ich bräuchte eine Liste
Ihrer Arbeiter, sowohl der Festangestellten wie der Tempo-
rären. Namen, Alter, Herkunft, Dauer der Anstellung. Kön-
nen Sie eine solche am Montag bereit halten?"
"Ich werde sie übers Wochenende erstellen", sagte sie. Dann
machten wir noch eine Zeit aus, wann sie mich abholen
würde, danach begleitete ich meine Besucher zur Tür.

Frau Trummer fuhr einen hellblauen Ford, mit dem sie mich
montags in der Früh in der Gerechtigkeitsgasse abholte. Sie
reichte mir eine Mappe.
"Die Unterlagen über die Arbeitskräfte", erklärte sie. "Ich
habe die Wichtigsten zuoberst einsortiert, jene, mit denen
Sie vorwiegend zu tun haben."
Ich studierte die Unterlagen während der Fahrt. Das erste
Blatt war der Vorarbeiter, Hans-Heinrich Deutschendorff,
gebürtig aus Baden-Baden im grossen Kanton, Brillenträ-
ger, blond, Froschgesicht. Sein Stellvertreter hiess Hans
Bargeld, war dunkelhaarig, mit einem zerfurchten Gesicht
und einem schiefen Lächeln. Es sah aus, als ob sein Kie-
fer leicht schief sass, vielleicht als Resultat einer Schläge-
rei in jungen Jahren. Sogar die Sicherheitsleute waren bei
den Unterlagen berücksichtigt. Unter ihnen war ein dicker,
bärtiger Iraner mit Lockenkopf, der Mohammed Kaiwusi
hiess. Auch unter den Temporärarbeitern war ein Iraner,
ein zierlich wirkender Typ mit Adlernase namens Omar
Emani. Als wir ausgestiegen und ich mit allen bekannt ge-
macht wurde, war ich überrascht, wie anders diese Men-
schen in ihrer Gesamtheit wirkten. Deutschendorff, der
hochdeutsch sprach, war etwa mittelgross, von normaler
Statur und hatte eine hohe Tenorstimme. Bargeld war
etwas kleiner, hatte aber verhältnismässig grosse Füsse
und Ansatz zu einem Bauch. Er sprach bernddeutsch mit
einem rauchigen Bassbariton. Kaiwusi und Emani spra-
chen beide gebrochen deutsch, meinten aber, sie würden
Dialekt verstehen. Insbesondere Kaiwusi war eine im-
posante Erscheinung. Ich schätzte ihn auf etwa 1,90m
und mindestens 150kg. Emani hingegen war klein und
drahtig und wirkte, als ob er nie stillhalten könnte.
Ein weiterer Mann trat hinzu, ein grauhaariger, bärtiger
Aargauer mit Bierbauch, der ein Klemmbrett mit sich
führte und sich als Sicherheitsbeauftragter Anton Watt
vorstellte. Nachdem die Vorstellungsrunde zu Ende war-
wobei ich unter dem Tarnnamen Marcel Graber fungier-
te- und Frau Trummer sich verabschiedet hatte, wurde
ich eingearbeitet. Wir- Kaiwusi, Emani, ein paar Andere
und ich- verluden die Brennelemente in einen Liefer-
wagen, stiegen selber mit ein und liessen uns zum Zwi-
schenlager fahren. Der Fahrer war ein Kroate namens
Ibramovic, ein knurriger, älterer Herr, der nicht viel
sprach. Watt hatte das Einladen baufsichtigt, fuhr aber
nicht mit, sondern wartete beim Kraftwerk, bis wir
wieder zurück kamen. Der Typ vom Zwischenlager,
der die Ladung entgegennahm, war ein bulliger, jun-
ger Mann, der sich uns namentlich nicht vorstellte.
Er ging kurz ins Büro, kam dann wieder raus und
meinte: "Es scheinen wieder zwei Stäbe zu fehlen."
"Scheisse!" rief Emani aus. "Das wir müssen mel-
den. Aber wir haben doch gut geladen, oder, Moham-
med?"
"Ja", antwortete Mohammed. Er sprach allgemein
nicht sehr viel.
"Wir melden", sagte Emani.
"Wenn das so weiter geht, kommen wir um einen Poli-
zeieinsatz nicht mehr herum", meinte der Junge.
"Chef nicht wollen Polizei", wandte Kaiwusi ein.
"Chef entscheiden", sprach Emani. "Wir melden, da-
nach wir weiter sehen..."
Wir stiegen wieder ein. Es war inzwischen Mittag,
also fuhr Ibramovic eine Raststätte an, wo wir etwas
essen wollten.
"Ich habe leider kein Geld", sagte ich. "Bin ständig
knapp. Muss mal schauen, ob ich irgendwo noch
schwarz was dazu verdienen kann."
"Wir zahlen dir Mittagessen", bot Emani an. "Kannst
anderes Mal bezahlen. Oder revanchieren."

Um meine Tarnung nicht zu gefährden, übernachtete ich
mit den Gastarbeitern vor Ort in einer Baubaracke. Als
die meisten schon zu schlafen schienen, weckte Emani
mich auf.
"Komm", flüsterte er mir zu. "Draussen eine rauchen."
"Ich rauche nicht", flüsterte ich verschlafen.
"Egal", meinte er. "Dann reden. Damit Andere nicht
wecken."
"Na gut." Ich stand auf und zog mir eine Jacke über.
Draussen zündete Emani sich eine Zigarette an.
"Du brauchen Geld?" fragte er. "Ich wissen, wie du
Geld bekommen."
"Und wie?"
"Kaiwusi und ich- wir stehlen."
"Ihr stehlt Geld?"
"Nicht Geld. Stäbe."
"Also deshalb kommen nicht alle im Zwischenlager an...?
Aber wie...?"
"Kaiwusi verstecken Kühltasche unter Pullover. Damit
er schmuggeln Stäbe weg. Niemand merken, weil Kai-
wusi sowieso schon dick. Deshalb er besser verstecken
Material."
"Und wie kommen die Stäbe unbemerkt zu Kaiwusi?"
fragte ich.
"Ich flinke Finger. Früher arbeiten bei Wanderzirkus. Als
Zauberer."
Ich tat, als ob ich eine Weile überlegen müsste. "Aber was
macht ihr dann mit diesen Stäben? Bringt ihr die auf den
Schwarzmarkt?"
"Nein", antwortete er. "Dafür kein Markt. Ist für Heimat-
land."
"Du meinst... den Iran?"
"Wir persische Agenten. Amerika hat..."
Ich unterbrach ihn. "Ich weiss, ich weiss. Die ganze Ge-
schichte mit dem iranischen General, der von den Ame-
rikanern getötet wurde... Und der Iran reichert nun also
erneut Uran an."
"Und dazu wir brauchen Brennstäbe."
"Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache", meinte ich.
"Iran gut bezahlen", sagte Emani.
"Also gut." Ich tat, als ob ich einsteigen würde. "Ich bin
dabei."

Da ich nun wusste, wie die ganze Sache ablief, konnte ich
die beiden Iraner im Auge behalten. Und tatsächlich be-
merkte ich, wie Emani blitzschnell Stäbe aus ihren Kühl-
boxen nahm und Kaiwusi diese unter seinen Pullover in
eine Kühltasche steckte. Meine Aufgabe war es, unauffäl-
lig für genügend Kühltaschen zu sorgen. Dies geschah
dadurch, dass ich unter dem Vorwand, etwas fürs Abend-
essen einzukaufen, immer auch heimlich Kühltaschen ein-
kaufte und diese Kaiwusi bei der nächstbesten Gelegen-
heit heimlich zusteckte. Da ich immer noch so tat, als wä-
re ich total abgebrannt, lieh mir Emani das Geld für die-
se Einkäufe. In dieser Nacht, als alle schliefen, schlich ich
mich raus und sendete heimlich eine SMS an Frau Trum-
mer. Sicherheitshalber löschte ich sie wieder, nachdem
sie versendet war. Ich wollte kein Risiko eingehen. Nicht,
wenn ich es mit Agenten zu tun hatte.

Am nächsten Morgen lief alles wie sonst auch, nur dass
diesmal noch ein weiterer Fahrgast ins Auto stieg. Bar-
geld gesellte sich zu uns.
"Da immer wieder Stäbe verschwunden sind und Herr
Watt hier unabkömmlich ist, überwache ich diesmal
den Transport", sagte er rauh und hustete. Der Mann
roch unangenehm nach Tabak.
Im Zwischenlager lief auch alles wie beim letzten Mal.
Der bullige Junge ging kontrollieren und kam mit der
Meldung zurück, dass wieder zwei Stäbe fehlen wür-
den.
"Die Herr Kaiwusi uns nun wieder zurück gibt", sprach
Bargeld. Die Ueberraschung stand uns allen ins Gesicht
geschrieben.
"Was?" fragte Kaiwusi. Ehe wir uns versahen, hatte Bar-
geld eine Pistole gezückt und hielt sie auf uns gerichtet.
"Ich weiss genau, wer ihr seid", begann er zu sprechen,
"und wozu ihr das macht, wir wussten nur noch nicht,
wie ihr es angestellt habt. Torso, stellen Sie sich hinter
mich, Sie haben mit der Sache nichts zu tun."
Nun war ich noch überraschter. "Woher wissen Sie...?"
"Dass Sie nicht Marcel Graber heissen und auch kein
Temporärarbeiter sind? Es ist mein Job, so was zu wis-
sen. Natürlich habe ich alle Arbeiter überprüft. Mein
Name ist Johannes Scheck, ich arbeite für den Bundes-
nachrichtendienst."
"Du bist nicht...?" stotterte Emani.
"Der Mann heisst Roman Torso und ist Privatdetektiv",
antwortete Bargeld, der nun plötzlich Scheck hiess,
an meiner Stelle. "Er wurde von Frau Trummer bauf-
tragt, der Sache nachzugehen."
"Wusste Frau Trummer...?" begann ich, konnte meine
Frage aber nicht zu Ende stellen, das tat Scheck an
meiner Stelle.
"...dass der Geheimdienst an der Sache dran ist? Nein,
sie hatte davon keine Ahnung. Gutschi wusste davon,
hatte aber keinen Schimmer, wer der verdeckte Agent
ist. Anders hätte es nicht funktioniert. Leider machten
wir den Fehler, mich nicht als kleinen Arbeiter zu tar-
nen, dadurch waren Sie näher dran. Doch als unsere
Leute gestern eine Nachricht abfangen konnten..."
"Die SMS, die ich Frau Trummer geschickt hatte",
dämmerte es mir.
"Genau", bekräftigte er. "Dadurch wussten wir, dass wir
nun endlich zuschlagen konnten. Ich denke, Herr Torso,
Sie haben unserem Land mit Ihrer Hilfe einen grossen
Dienst erwiesen."
"Kriege ich dafür nun einen Orden verliehen?" fragte ich.
Er lachte heiser. "Ich fürchte", meinte er, "daraus wird
nichts. Schliesslich soll die Geschichte doch nicht an die
Oeffentlichkeit."

Mittlerweile ist einige Zeit vergangen, es ist etwas Gras
über die Sache gewachsen, und so kann ich es trotz allem-
wagen, diese Geschichte aufzuschreiben, insbesondere
da Gutschi meinte, die Story würde mir eh keiner glauben.
Ich werde ihn daran erinnern, wenn er in seinen Reden
ähnliche Vorfälle erwähnen sollte, um auf das Ausländer-
problem aufmerksam zu machen. Kaiwusi und Emani
wurden vom Geheimdienst gefangen genommen, doch
was danach mit ihnen geschah, wurde mir nicht mehr
mitgeteilt. Wahrscheinlich hatte der iranische Geheim-
dienst sie wieder ausgelöst. Einen Orden hatte ich für
meine Dienste nie erhalten, aber immerhin einen Dan-
kesbrief der Umweltministerin, der aber so allgemein
gehalten war, dass niemand daraus herauslesen konnte,
worum es dabei eigentlich ging. Na ja, Politikersprache
halt eben...

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