Samstag, 8. Februar 2020
"Rock'n'Roll und Rokoko", Kapitel 1
(Bild von Carl Wilhelm Anton Seiler)
Steve Merlin war ein komischer Kauz. Eigentlich hiess er
zwar Stefan, aber da der grösste Teil seiner Kundschaft
aus England und den USA stammte, nannte er sich Steve.
Er war gross und schlank und ganz in Weiss gekleidet,
was seine distinguierte Erscheinung mit dem vollen, weis-
sen Haar noch zusätzlich hervorhob. Er reichte mir seine
Visitenkarte, nachdem er sich in den Besucherstuhl ge-
setzt hatte.
"Musikmanager, aha", murmelte ich nach einem kurzen
Blick darauf. "Und was kann ich für Sie tun?"
"Nun, Herr Torso", begann er, "Sie sind doch Privatdetek-
tiv?"
"Gelegentlich. Hauptberuflich bin ich Gorillaforscher."
"Mir ist nicht nach Scherzen zumute..."
"Dann stellen Sie keine Scherzfragen. Natürlich bin ich
Privatdetektiv. Steht ja auch so an der Tür. Und im Te-
lefonbuch. Und auf meinen Visitenkarten. Also, was
kann ich für Sie tun?"
"Nun", hob er an, "wie Sie vielleicht wissen, reist die
englische Band "The Fragonards" zur Zeit durch Euro-
pa und gibt auch drei Konzerte in der Schweiz: Bern,
Zürich und Basel."
"Und?"
"Und die Bandmitglieder werden von einem Stalker oder
einer Stalkerin belästigt, der oder die ihnen auch Droh-
briefe zukommen lässt."
"Allen Bandmitgliedern? Wie viele sind es denn?"
"Vier natürlich!" Er klang entrüstet. "Kennen Sie die Fra-
gonards etwa nicht?"
"Leider nicht."
"Mögen Sie Rock'n'Roll?"
"Sehr sogar. Sofern es richtiger Rock'n'Roll ist und nicht
bloss so genannt wird. So im Fifties-Stil, das mag ich.
Elvis und Jerry Lee, verstehen Sie?"
"Dann müssten Sie die Fragonards doch eigentlich ken-
nen", meinte er. "Die spielen genau solche Musik. Nur,
dass sie, als spezieller Gag, in Kleidern aus der Rokoko-
zeit auftreten. Deshalb auch der Name Fragonards. In
Anlehnung an den Rokokomaler Jean-Honoré Fragonard."
"Ach, die Jungs heissen sonst gar nicht Fragonard?"
"Ich kann sie Ihnen vorstellen. Sie warten im Restaurant,
etwas weiter die Strasse runter."
"Erst möchte ich wissen, wie ich Ihnen helfen soll."
"Wir bräuchten jemanden, der unterwegs ein bisschen auf
die Jungs aufpasst. Inklusive Mitfahrt im Tourbus und so.
Und der dabei herausfinden kann, wo diese Briefe herkom-
men."
"Ich dachte, von diesem Stalker?"
"Das ist nur ein Verdacht", meinte er. "Niemand hat ihn je
gesehen, wie er die Briefe abgegeben hat."
"Im Hotel? An der Rezeption?"
"In Zürich war das so", antwortete er. "Hier, in Bern, wurde
der Brief unter der Zimmertür durchgeschoben. Der nächste
Gig, jener in Basel... wir möchten, dass das aufhört."
"Na gut", meinte ich. "Stellen Sie mir die Jungs doch mal
vor."
"Heisst das, Sie übernehmen den Fall?"
"Ich denke, schon."
Wir betraten das Restaurant, in dem die Bandmitglieder an
einem Tisch sassen. Tatsächlich waren sie in Rokokokostü-
me gekleidet, sogar Perücken hatten sie auf dem Kopf.
Zwei von ihnen spielten eine Partie Schach, während der
Dritte zuschaute. Wir traten zu ihnen hin, und Merlin stell-
te mich auf englisch vor. Bei den Schachspielern handelte
es sich um Mike Jiggle, den Sänger der Band, der ein leicht
rundliches Gesicht hatte, das einen Kontrast zu seiner sonst
recht schlanken Gestalt bildete, und Kenny Reid, den Gi-
tarristen, der als einziger keine Perücke aufhatte, sondern
seine Halbglatze offen zeigte. Der Dritte, der Zuschauer,
war Ronald Work, der Bassist. Bald darauf gesellte sich
auch der Vierte zu uns, Bryan Myers, der Bassist, der ge-
rade von der Toilette kam. Nachdem wir uns alle miteinan-
der bekannt gemacht hatten, verliessen wir gemeinsam
das Lokal, und sie führten mich zum Standort ihres Tour-
busses. Dort trafen wir auf einen etwas kleineren Herrn
mit leichtem Bauchansatz, der aber um einige Jahre jün-
ger war als die Musiker. Er wurde mir als Andy Waller,
der Roadie, also sowas wie das Mädchen für alles für
Musiker auf Tour, vorgestellt.
"Nice to meet you", sagte ich und schüttelte ihm die Hand.
"Sie können auch schweizerdeutsch mit mir sprechen",
sagte er überraschend, wobei sein Dialekt eine Mischung
aus Baseldeutsch und amerikanisch-englischem Akzent
war. "Ich bin ursprünglich Schweizer. Von Basel aus nach
Amerika ausgewandert, von dort aus nach England, um
in die Dienste der Band zu treten."
"Andy hat schon mit den ganz Grossen gearbeitet", erzählte
Merlin. "Den Bellamy Brothers, den Rolling Stones...
Einen Besseren hätten wir nirgendwo finden können."
Ich schaute mir das Gefährt an. "Das ist also der Tourbus?"
fragte ich.
"Genau", antwortete Merlin. "Andy übernachtet im Bus."
"Das ist mein Baby", erklärte Waller. "Das lasse ich nicht
unbeaufsichtigt."
"Die Band selber übernachtet im Hotel Kreuz", erläuterte
Merlin. "Heute abend ist das grosse Konzert im Wank-
dorf. Uebermorgen im Volkshaus in Zürich. Dort ist für
eine Nacht ein Zimmer reserviert."
"Wenn ich auf die Jungs aufpassen soll", fragte ich, "kom-
me ich dann auch gratis ans Konzert?"
"Sogar in den VIP- und den Backstage-Bereich", antwortete
Merlin lächelnd.
"Jetzt ist der Fall klar", grinste ich. "Unter solchen Umstän-
den kann ich diesen Auftrag gar nicht ablehnen."
Fortsetzung folgt...
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