Dienstag, 14. Oktober 2014

Kurzgeschichte: Dolly Grips und die seltsame Sirene

Fabio Aeberhard wirkte wie ein Mann, der vor Sorge zu wenig geschlafen
hatte, als er uns in unserem Büro aufsuchte. Nun haben natürlich die mei-
sten Menschen, die Dolly Grips' Hilfe suchen, ihre Sorgen, aber dieser
hatte nicht nur Ringe unter den Augen von zu wenig Schlaf, sondern auch
eine ungesund bleiche Gesichtsfarbe, die den Stubenhocker auszeichnete.
"Sie sehen ungesund aus", sagte Dolly, sachlich wie immer. "Wie können
wir Ihnen helfen?"
"Die Sache ist so", begann er, "meine Frau Romina leidet an einer sehr
starken Sonnenallergie, weshalb sie tagsüber, gerade bei so schönem
Sommerwetter wie in den letzten Tagen, so gut wie gar nicht aus dem
Haus gehen kann. Wir haben deshalb unsere Aktivitäten so gut wie mög-
lich auf die Nacht verschoben und schlafen tagsüber. Wir sind beide
selbstständig- sie designt Webseiten, ich bin Sachbuchautor-, so dass
dies kein Problem war."
"Etwa der Autor von 'Farne für unsere Gärten'?" fragte Dolly.
"Ja, das war mein erstes Buch. Mein neuestes erscheint im Februar. Es
heisst 'Farne in der Medizin'."
"Ich habe Ihr Buch gelesen. Aber fahren Sie bitte fort."
"Nun, um tagsüber etwas mehr Ruhe zu haben, zogen wir kürzlich von
der Stadt aufs Land, nach Schilfrohr. Unsere Wohnung liegt ganz in der
Nähe eines Vogelschutzgebietes, was aber kein Problem ist, da der Vogel-
gesang auf uns beide eher einschläfernd wirkt. Aber dann kamen die Si-
renen."
"Sirenen?" fragte Dolly.
"Ja, Sirenen. Fast jeden Tag heulen irgendwo in der Nähe Sirenen. Aber
wenn wir uns bei der Gemeinde erkundigen, wissen die nichts von Sire-
nen."
Dolly schloss kurz die Augen und dachte nach. "Hmmm", machte sie,
als sie die Augen wieder öffnete. "Ich habe eine Idee, was dahinter stecken
könnte. Aber ich muss mich erst vergewissern. Ich würde sagen, wir tref-
fen uns alle am Samstag wieder hier. Um welche Zeit waren diese Sirenen
hörbar?"
"Meistens so zwischen zwei und drei Uhr nachmittags."
"Dann würde ich sagen, wir treffen uns samstags zwischen zwei und drei
Uhr wieder hier. Hat Ihre Frau etwas Schwarzes zum Anziehen?"
"Ja. Aber weshalb?"
"Nun", meinte Dolly, "wir werden wohl etwas ans Tageslicht müssen,
um das Rätsel zu lösen. Und mit schwarzer Kleidung ist sie besser
vor der Sonne geschützt."
Zugegeben, ich hatte keine Ahnung, was Dolly vermutete, und so war
ich genau so gespannt wie Fabio Aeberhard, was uns wohl am Samstag
erwarten würde. Leider hat Dolly diese nicht immer angenehme Ange-
wohnheit, selbst ihren engsten Mitarbeiter im Unklaren zu lassen.


Am Samstag fanden wir uns also zu gegebener Zeit beim Ehepaar
Aeberhard ein. Romina Aeberhard war, was in ihrem Fall allerdings
keine Ueberraschung war, noch bleicher als ihr Mann, und von oben
bis unten in schwarze Kleidung gepackt.
"Also dann", meinte Dolly. "Warten wir, bis wir das Geräusch hören."
Es vergingen ungefähr sieben Minuten, als tatsächlich ein Geräusch
zu hören war, das eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Klang einer
Sirene hatte. Dolly stand auf und zog die Vorhänge zur Seite. Herr
und Frau Aeberhard blinzelten, doch als sich ihre Augen etwas an
den Lichteinfall gewöhnt hatten, erblickten auch sie, woher dieses
Geräusch kam.
"Greifvögel!" rief Herr Aeberhard.

"Milane, um genau zu sein", ergänzte ich, den Anschein erweckend,
als ob ich irgend so etwas geahnt hätte. Die Wahrheit war, dass ich
auf Milane zuallerletzt getippt hätte, wenn überhaupt.
"Um noch genauer zu sein, Rotmilane", warf Dolly ein. "Als Sie bei
Ihrem Besuch erwähnten, Ihre Wohnung liege in einem Vogelschutz-
gebiet mit hohem Greifvogelaufkommen, da vermutete ich, dass Ihre
Sirene der Schrein eines Greifvogel sein könnte, auch wenn mir noch
nicht klar war, welcher. Glücklicherweise konnte mir hier die Vogel-
warte Sempach weiterhelfen, die alle Vogelvorkommen in der Schweiz
untersucht und wusste, dass sich hier eine ganze Menge Rotmilane
herumtreiben, deren Population in den letzten Jahren übrigens wieder
gestiegen ist."


Für Dolly war damit alles erledigt, das Rätsel war gelöst. Ich hinge-
gen fragte mich noch des Oefteren, ob die Aeberhards danach wohl
umgezogen wären. Meine Neugier wurde befriedigt, als Dolly ein
Paket zugeschickt bekam. Innendrin war ein Brief, in dem Fabio
Aeberhard schrieb, seine Frau und er hätten das Schauspiel des
Milanflugs so lieb gewonnen, dass sie ihm nun täglich beiwohnen,
Sonnenallergie hin oder her. Inzwischen hatte Fabio auch schon
ein weiteres Buch fertig, von dem er ein Exemplar beigelegt hatte;
der Titel lautete "Europas Greifvögel und ihre Stimmlaute".

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