Dienstag, 13. Januar 2015

Kurzgeschichte: Tamara

Tamara liebte es, sich zu präsentieren. Oft träumte sie nachts davon,
ein bekanntes Fotomodell zu sein. Die Realität aber sah ganz anders
aus. Nicht etwa, dass Tamara nicht attraktiv gewesen wäre, ganz im
Gegenteil: Sie hatte halblanges, braunes Haar, lustig zwinkernde
Augen, ein verschmitztes Lächeln und ein hübsches Stupsnäschen
in einem sehr sympathischen Gesicht. Aber ihr Körper entsprach
nicht dem gängigen Schönheitsideal, er war alles andere als flach.
Im Gegenteil, sie war eher dick. Sie hatte einige Pfund Uebergewicht.

Klar hatte sie schon öfters versucht, etwas abzunehmen, aber ihr Appettit
machte jeder Diät einen Strich durch die Rechnung, und der Jojo-Effekt
machte alles nur noch schlimmer. Irgendwann gab Tamara den Traum
vom Abnehmen auf und beschloss, mit ihrer eigenen, ihrer runden Figur,
glücklich zu werden. Der Traum vom Modeln aber, den hegte sie nach
wie vor, denn für sie gab es nichts Schöneres, als wenn sie ihren Körper
präsentieren konnte.


Eines Tages lernte Tamara einen Mann kennen. Udo hiess er und war
Künstler. Er war einer jener seltsamen und seltenen Künstler, welche
sich mit jeder Art von Kunst beschäftigten. Er malte, bildhauerte,
fotografierte und machte Videos.
Als Tamara Udo etwa drei Wochen kannte, erzählte sie ihm einmal
von ihrer heimlichen Sehnsucht.
"Es gibt noch andere Möglichkeiten, sich zu präsentieren", meinte er.
"Im Strandbad oben ohne, meinst du wohl?"
"Das wäre auch eine Möglichkeit, ja. Aber ich dachte mehr an künst-
lerische Möglichkeiten. Ist nicht viel anders als modeln."
"Ich bin zu dick zum Modeln."
"Vielleicht in den Augen eines Modedesigners. Aber nicht in den Augen
eines Künstlers. Künstler suchen genau solche Modelle wie dich. Die
meisten von uns lieben die zarten, weichen Speckfalten molliger Frauen
und werden nicht müde, diese zu malen oder- in Marmor oder Bronze-
zu modellieren."
"Echt?"
"Echt. Hast du denn noch nie ein Bild von Rubens gesehen?"
"Doch. Aber das war ein ganz anderes Zeitalter."
"In der Kunst bleibt die Zeit manchmal stehen. Auch spätere Maler
wie Renoir, Botero oder Freud haben die üppige Fülle bevorzugt.
Eines von Freuds Modellen, eine Frau namens Sue, war etwa doppelt
so dick wie du, und doch hat er ihre Schönheit gesehen und auf die
Leinwand gebracht."
"Ach, du meine Güte!"
"Möchtest du nicht meine Sue, meine Hélene, meine Lise, Gabrielle
oder Aline, mein Modell sein? Ich bete dich an, seit ich dich zum
ersten Mal gesehen habe. Ich möchte dich anschauen, dich malen,
dich modellieren. Ich möchte Fotos von dir machen und Videos mit
dir drehen. Ich bin kein Unbekannter in der Kunstszene, ich kann
dich, d.h. diese Werke, ausstellen lassen. Die Kunstliebhaber werden
dich bewundern. Nein, mehr noch: Sie werden dich lieben."
Tamara dachte eine Weile nach, doch ihre Antwort wusste sie bereits.
Das war besser als modeln; es war wie modeln und doch wieder nicht;
es war zugleich mehr und trotzdem weniger als modeln. Sie sagte zu,
und Udo bat sie für den nächsten Tag in sein Atelier.


Das Atelier war ein kleiner Raum mit einem rosarot bespannten Bett
darin. Auf dieses hiess Udo sie sitzen. Sie trug nur ihre Unterwäsche
und nahm eine von ihm gewählte Pose ein. Ihr rundlicher Bauch
legte sich in Falten, wenn sie sass. Udo holte seine Staffelei und
begann zu malen; und er malte langsamer, als er ihre Speckfalten
und ihre wohlgeformten Brüste malte; und es war, als ob der Pinsel
nicht die Leinwand, sondern Tamara selber streichelte. Und Tamara
sass da und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn es tatsächlich
so wäre.

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