Sonntag, 3. Juni 2018

Aufzeichnungen eines Aussenseiters, 3.6.2018

"Ist Fortschritt immer eine Frage der Reduk-
tion schlechter Dinge?"
(Ray Sorensen: "Wer falsch liegt, hat immer
recht")

Wir leben in einer fortschrittsgläubigen Welt.
Aber was hat uns dies gebracht? Sicher, es
gibt Erfindungen, die uns das Leben erleich-
tern und die wir nicht mehr missen wollen,
beispielsweise fliessendes Wasser und sani-
täre Anlagen, die einer Menge Krankheiten
die Ausbreitung schwieriger gemacht haben,
zumindest bei uns im westeuropäischen Raum.
Das Frauenstimmrecht und dass heute beider-
lei Geschlechter so gut wie alle Berufe erler-
nen und in diesen tätig sein können, das war
ein enormer Fortschritt. Für meine Genera-
tion ist es kaum zu glauben, dass es früher
einmal anders war, und das, obschon ich be-
reits auf der Welt und alt genug war, um die
Zusammenhänge mitzukriegen, als das Frauen-
stimmrecht auch in Appenzell- der letzten
Bastion des Patriarchismus- endlich auch ein-
geführt wurde. Auch behindertengerechte
Zugänge zu öffentlichen Gebäuden und Ein-
stiege bei öffentlichen Verkehrsmitteln zählen
für mich zu den positiven Seiten des Fort-
schritts. Und dass Mobiltelefone wahrschein-
lich mehr Leben gerettet als zerstört haben,
das müssten eigentlich selbst jene Skeptiker
zugestehen, die vor der Handystrahlung warnen.
Und doch- man darf, man muss sogar, den Fort-
schritt auch kritisch betrachten. Das heisst nicht,
dass ich zurück in die Steinzeit möchte, doch
einige unserer heutigen Probleme hatten bereits
damals ihren Ursprung. Die Domestikation des
Schafes führte erst zu dem Problem mit dem
Wolf, da das Schaf dadurch seinen Fluchttrieb
verlor. Der Wechsel vom Jäger und Sammler
zum Ackerbauer führte zur heutigen Landwirt-
schaft und die Wunschvorstellungen der Kon-
sumenten zu einem zu hohen Gebrauch von
Pflanzenschutzmitteln. Renaturierungs- und
Wiederansiedelungsprojekte sind nur durch
das Handeln früherer Menschen nötig gewor-
den; mittlerweile ist jedes Projekt, das in der
Natur gestartet wird, nichts anderes als Scha-
densbegrenzung. Von Nachhaltigkeit wird
viel geredet, doch kaum einer könnte dieses
Schlagwort erklären. Dass wir so leben soll-
ten, dass auch unsere Nachkommen noch auf
einer gesunden Erde verweilen können, ist nur
eine ungenügende Umschreibung, und nicht
nur, weil unsere Erde nicht mehr ganz so gesund
ist, wie wir uns dies hoffen würden. Zwar passt
sich die Natur veränderten Umständen an, aber
dies dauert Millionen von Jahren, so schnell wie
der Mensch diese Ressourcen zerstört, kommt
die Natur mit diesem Prozess der Anpassung
gar nicht mit. Man nennt diesen Prozess Evolu-
tion. Das hat also nichts mit der Weiterentwick-
lung vom Affen zum Menschen zu tun, sondern
mit der Anpassung der Arten an veränderte Um-
stände. Darwin wird seit Jahrhunderten falsch
verstanden, und der ganze Streit zwischen Wissen-
schaft und Religion wäre eigentlich völlig unnötig!
Ich möchte als Beispiel den Eisbären anführen,
das Symboltier schlechthin, wenn auf die Gefahren
des Klimawandels hingewiesen wird. Der Eisbär
entwickelte sich aus einer Braunbärenart, die weiter
nördlich zog und sich den dortigen Gegebenheiten
anpasste. Sein Fell wurde weiss und seine Nahrung
stärker fleischorientiert, da dort weniger Vegetation
vorhanden ist. Seine Hauptbeute wurden Fische und
Robben. Wenn nun das arktische Packeis schmilzt,
so liest und hört man immer wieder, hat der Eisbär
ein Problem... Wenn damit Augen und Ohren geöff-
net werden, ist diese Argumentation durchaus legi-
tim, doch sie stimmt nicht ganz. Die ganze Geschich-
te ist viel komplexer. Die wirklichen Verlierer der
Packeisschmelze sind nämlich die arktischen und
antarktischen Robben, die ihre Jungen an Land-
also auf dem Packeis- gebären. Diese Robbenbabys
mit ihrem noch dichten Fell können noch nicht
schwimmen! Klar, dass dies auch auf den Eisbären
eine Auswirkung hat, doch der Eisbär ist bereits
wieder dazu übergegangen, hin und wieder auch
Algen oder anderes planzliches Material zu futtern.
Die grössere Gefahr für den Eisbären besteht im
Grizzlybären, nämlich dann, wenn sich ihre Lebens-
räume überschneiden, weil der Eisbär, um wieder
Boden unter den Pfoten spüren zu können, weiter
südlich kommt. Ursus maritimus und Ursus arctos
horribilis können sich nämlich miteinander kreuzen,
dadurch entsteht der sogenannte Pizzlybär, der sich,
wie ein Maultier, nicht weiter vermehren kann, da
er steril ist... Was bedeutet, dass im schlimmstmög-
lichen Fall beide Elternarten aussterben könnten!
Das Thema ist also sehr viel komplexer, als wir es
wahrhaben wollen oder sogar können, aber es lohnt
sich, mal etwas intensiver darüber nachzudenken.
Denn nur so können wir Menschen erst anfangen,
über Lösungen nachzudenken, von denen es immer
noch viel zu wenige und gar keine griffigen gibt.
Der Brainstorm ist eröffnet...

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