( Dem im Jahr 2007 viel zu früh und zu jung verstorbenen Christian M. gewid-
met. Er war einer der besten Menschen, den ich kennen durfte. Ruhe in Frieden.)
Die Kirche war bereits mehr als voll, als noch drei weitere Trauernde hinzu kamen.
Es handelte sich um Kollegen und Bekannte des verstorbenen Cornelius Merx,
zwei Frauen und einen Mann. Letzterer, Amerigo Madig, Autor zahlreicher philo-
sophischer und freigeistiger Bücher, war gross und schlank, und seine Miene
zeigte an, dass es ihm zuwider war, eine Kirche zu betreten, da er es hasste, den
Glauben, der für ihn zum privaten Bereich zählte, öffentlich zu zeigen. Nur dem
verstorbenen Cornelius und den beiden anwesenden Damen zuliebe war er gekom-
men, enttäuscht darüber, dass die Beisetzung nur im Familienkreise des Verstorbe-
nen stattgefunden hatte, was ihn der Möglichkeit beraubte, auf den Friedhof zu
kommen, um dem Toten das letzte Geleit zu geben und danach wieder zu ver-
schwinden. Die Damen hiessen Nora Rapp, ihres langen schwarzen Haares wegen
auch "Nera" genannt, gross und vollbusig, und Katrin Gilgen, etwas kleiner, aber
nicht weniger üppig, wenn auch bei ihr die Ueppigkeit eher am Hintern durch-
brach.
"Ich lasse Sie vorne beim Chor herein", bot der Vikar an und öffnete die Seiten-
tür der Kirche, durch die diese drei Personen, sowie einige weitere, eintreten und
vorne im Kirchenchor Platz nehmen konnten. Einzig Madig machte eine Kehrt-
wende.
"Stimmt etwas nicht?" fragte der Vikar.
"Ich werde nicht gerne öffentlich ausgestellt", knurrte der Philosoph, der, wie die
meisten Schriftsteller, Zurückgezogenheit und Anonymität schätzte.
Der Vikar durchpflügte mit seinen Blicken das Kirchenschiff und entdeckte einen
noch leer gebliebenen Platz. "Wäre Ihnen dort lieber?" fragte er, und Madig be-
dankte sich und nahm Platz.
Die Orgel erklang. Als sie fertig gespielt hatte, begann der Pfarrer die Lebensge-
schichte des Verstorbenen zu erzählen:
"Cornelius Merx hatte es nie leicht in seinem Leben. Seit er als kleines Kind bei
einem Gewitter einen Schock erlitt und seither unter Sprachstörungen litt, wurde
er von seinen Mitschülern oft deswegen gehänselt. Und doch: Böse war er ihnen
deswegen nie, ja, zu einigen von ihnen unterhielt er sogar eine lebenslange Freund-
schaft...Als er den Beruf des Kochs erlernt hatte, hatte er endlich etwas, um seine
Experimentierlust auszuleben; insbesondere die Schweinefilets hatten es ihm an-
getan. Nun hat sein Herz, einfach so, während der Nacht vom 19ten zum 20sten,
aufgehört zu schlagen, und wir, die wir ihn uns alle in unser Herz geschlossen ha-
ben, sind heute hier zusammen gekommen, um Abschied zu nehmen von einem
wunderbaren Menschen, um zu trauern und uns seiner zu gedenken. Lasset uns
beten..."
Als die Abdankung zu Ende war, einige Trauergäste den Angehörigen des Ver-
storbenen ihr Beileid ausgesprochen hatten und andere bereits den Weg zur
Wirtschaft antraten, um dort vom Totenmahl zu profitieren, wandte Madig sich
an Nora und Katrin, der man die Trauer besonders gut ansah: "So, gehen wir
nun zum Friedhof? Ich sollte ihm nämlich einen Gruss von meinem Bruder
ausrichten. Er konnte selber nicht kommen, er muss arbeiten."
"Mein Mann wollte eigentlich auch kommen", erzählte Katrin, "aber sein Chef
wollte ihm den Freitag nicht geben."
"Weil es kein Verwandter war. Er war nicht dazu verpflichtet."
Sie machten sich auf den Weg.
"Warum ist Julia eigentlich nicht gekommen?" fragte Nera. "Immerhin war Cor-
nelius doch einer ihrer grössten Verehrer."
"Sie muss in der Kinderkrippe die Kleinen hüten. Plus ihren eigenen Sohn", er-
klärte Madig.
"Aber das hätte man doch sicher irgendwie regeln können, dass sie kommen
kann?" meinte Katrin.
"Wenn sie endlich mal eine anständige Kinderkrippe machen würden anstatt
einer, die nur von Pfarrer und Vikar und Julia betreut wird, und wegen der
Abdankung nur Julia übrig blieb- dann vielleicht schon", knurrte Madig.
"Warum bist du bloss immer so mies drauf, wenn es um die Kirche geht?"
fragte Nera ihn.
"Ich traue der Kirche nicht", erklärte er. "Ausserdem bin ich nicht für Jesus,
sondern für Cornelius gekommen."
Inzwischen waren sie beim Friedhof angelangt. Auf einem Erdhaufen lagen
Blumenarrangements und Kränze, weder ein Kreuz noch ein Stein waren
schon errichtet.
"Entschuldigen Sie", wandte Nera sich an den Totengräber, einen alten, runze-
ligen Herrn, "liegt hier Cornelius Merx begraben?"
Der Alte nickte nur und zeigte, wie um sein Nicken zu unterstreichen, mit sei-
ner Pfeife auf den Erdhaufen.
Die drei Freunde stellten sich vor den Erdhaufen, nur Madig kniete sich hin und
berührte das feuchte Erdreich. In Gedanken machte er: 'Cornelius, ich soll dir
einen Gruss von Moritz ausrichten, er konnte leider nicht kommen, doch er wird
immer gerne an dich zurückdenken." Er sprach es nicht aus, denn er war der An-
sicht, dass die Toten Gedanken lesen können. Dann erhob er sich wieder, und
nachdem sie noch eine Weile dastanden, verliessen sie schliesslich den Friedhof
wieder und kehrten in einer kleineren Wirtschaft ein. In die grosse Wirtschaft
wollten sie nicht, denn es war ihnen allen nicht wohl bei dem Gedanken, den
Rest des Nachmittags in der Gesellschaft von Leuten zu verbringen, bei denen
sie nur etwa bei der Hälfte von ihnen wussten, ob diese den Verstorbenen über-
haupt gekannt hatten.
"An diesem Tisch sass er oft mit uns", resümierte Katrin, noch immer melan-
cholisch dreinblickend.
"Auf Cornelius", machte Nera und hob ihr Glas. "Möge es ihm dort oben bes-
ser gehen!"
Und sie prosteten sich zu und leerten ihre Gläser...
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