Mittwoch, 16. Januar 2013
Kurzgeschichte: Die Regenschirme
Es war ein regnerischer Tag in der geschäftigen grossen Stadt, einer jener
Tage, an denen der Ausspruch "Es bewegen sich nur Schirme durch die
Stadt" mehr als nur Sinn machte. Tatsächlich waren die Strassen voll von
aufgespannten Regenschirmen, denn alle Einwohner dieser Stadt hatten,
des üblen Wetters zum Trotz, ihren Angelegenheiten ausser Haus nachzu-
gehen, als da wären: Einkaufen, Flanieren, Einzahlungen machen und
Geld abheben, in den Strassen um Kleingeld für das nächste Bier oder den
nächsten Joint oder bloss einen Laib Brot betteln, Verabredungen und Ter-
mine einhalten, Kaffeekränzchen, der Weg zur Arbeit oder von der Arbeit
nach Hause usw.usf. Und natürlich blieb es, bei so vielen dicht gedrängten
Menschen mit offenen schirmen auf den Strassen einer Stadt, nicht aus,
dass sich die Schirme gegenseitig in den Weg gerieten.
"He, passen Sie doch auf!" brüllte eine ältere, resolut wirkende Dame ein
junges, zierliches Fräulein an. "Sehen Sie sich mal meinen Schirm an!
Sie haben mit Ihrer Schirmspitze seinen Stoch durchstochen! Wie soll ich
nun trockenen Hauptes nach Hause kommen, wo mich so schon die Gicht
plagt?"
"Verzeihung", erwiderte das Fräulein, "aber waren nicht Sie diejenige, die
ihren Schirm so hielt, dass für andere Passanten hier kein Durchkommen
mehr war?"
Damit hatte sie zweifellos recht, doch war die alte Dame nicht die einzige,
die sich an jenem Tage so verhalten hatte.
"Wollen Sie etwa behaupten", keifte sie beleidigt zurück, "ich würde hier
den Verkehr aufhalten?"
"Es gibt ja wohl genügend Zeugen, die dies bezeugen können", keifte die
Jüngere, die sich im Recht glaubte, dem entgegen. Dass die meisten Pas-
santen bislang mit ihren eigenen Problemen beschäftigt waren und erst
jetzt auf das Treiben der beiden Damen aufmerksam wurden, das über-
sah sie dabei.
"Wenn, dann würden sie wohl höchstens bezeugen, dass Sie mir mit Ihrem
Schirm den meinigen kapputt gemacht und mit Ihrem Schirm mir vor dem
Gesicht herum hantiert haben, so dass Sie mir beinahe noch die Augen
ausgestochen hätten", warf die Alte nun der Jungen vor und stellte ihr mit
ihrem kapputten Schirm ein Bein, so dass diese zu Boden fiel, wobei nicht
nur ihr Sonntagskleid kaputt ging, sondern sie sich auch noch ihre Knie
aufschürfte. Mühsam rappelte sie sich wieder hoch.
"Sehen Sie bloss, was Sie angerichtet haben!" klagte sie. "Dabei wollte
ich heute doch meinen Verlobten treffen!"
"Pah!" höhnte die Alte. "Dass so eine Göre wie Sie überhaupt einen Mann
gefunden hat! Zu meiner Zeit hatten die Männer wenigstens noch Ge-
schmack!"
Das war nun aber vollends zu viel für das junge Ding, das, wie die meisten
jungen Verliebten, überhaupt keine Kritik an der geliebten Person ertragen
konnte.
"Sie sind ja bloss eifersüchtig, Sie alte, verrunzelte Schachtel", brüllte sie
die Andere an, "da Sie kein Mann mehr ansieht, aus Angst, dass er davon
Albträume kriegt!"
Nun war es an der alten, verrunzelten Schachtel, beleidigt zu sein. "Sie
wagen es...!" schrie sie und schlug mit ihrem Schirm auf die Andere ein.
Diese schlug ihrerseits mit ihrem zurück, und zum Schluss hätte man mei-
nen können, es würde sich hier nicht um zwei Damen mit Regenschirmen,
sondern um zwei Musketiere im Gefecht handeln.
In diesem Moment kam gerade der Verlobte des Fräuleins um die Ecke,
ein stattlicher junger Mann, natürlich ebenfalls mit einem Schirm bewaff-
net, der nun glaubte, seine Angebetete verteidigen zu müssen und sich tat-
kräftig in das Hand-bzw. Schirmgemänge einmischte. Und endlich erschien
auch die Polizei am Tatort, die von irgendeiner harmlosen, besorgten Pas-
santin angefunkt worden war, und führte alle drei Beteiligten, durchnässt
und verletzt, zwecks eines klärenden Gesprächs auf der Polizeihauptwache,
ab.
Am Orte selber blieben die Passanten und Gaffer, die sich bei solchen Be-
gebenheiten immer blicken lassen, zurück.
"Diese heutige Jugend", seufzte ein älterer Herr, der glaubte, das Gesche-
hene unbedingt kommentieren zu müssen. "Absolut kein Anstand mehr!
Kein Respekt dem Alter gegenüber!"
"Bei allem Respekt", erwiderte ein junger Mann, vielleicht gerade erst
20jährig, "aber so viel ich mitbekommen habe, war es doch die alte Dame,
die den Streit angefangen hat."
"Wollen Sie damit etwa andeuten, diese harmlose alte Frau wäre eine Fu-
rie?" funkelte der alte Herr zornig.
"Das habe ich zwar nicht gesagt", erwiderte der Junge, "aber es entspricht
durchaus den Tatsachen."
"Na warte, Bürschchen, dich werd' ich lehren, das Alter zu Ehren!" knurrte
der Alte und zog seinen Schirm zu einem Schlag auf, während der Junge
mit dem seinigen bereits zum Gegenschlag ausholte...
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