Dienstag, 24. September 2013

Aufzeichnungen eines Aussenseiters, 24.9.2013


Die Badesaison ging zu Ende, die Freibäder schlossen, der See aber, den kann
man glücklicherweise nicht einfach wegschliessen, da kann man auch an den
schönen Herbsttagen noch schwimmen gehen, solange das Wetter dies noch
zulässt. Dieses Jahr habe ich mich, allerdings nur nachts, wenn es dunkel war
und niemand sonst noch dort, sogar nackt in den See getraut. Man könnte nun
sagen, im Dunkeln wäre dies doch keine Leistung, aber bei hellem Tageslicht
wäre mir mein Schamgefühl da doch im Wege. Es ist nun mal kein See, an dem
FKK gepflegt wird. Es ist aber auch nirgends geschrieben, dass es verboten wäre.
Das ist nicht das einzige, was ich dieses Jahr gemacht habe, was ich vorher nie
gedacht hätte, dass ich das mal tun würde. Aber die Liste der Dinge, die ich nie
gedacht hätte, dass ich sie mal tun würde, reicht bis weit in die Kindheit zurück.
Damals hätte ich nie geglaubt, dass ich einmal Sandalen tragen würde. Oder
dass ich einmal eine Beziehung haben würde; dass ich einmal im Verkauf ar-
beiten und sogar eine Krawatte tragen würde (wenn auch widerwillig). Oder
dass ich zustimmen würde, ein Medikament zu nehmen- wenn auch vorerst
versuchshalber-, das rezeptpflichtig ist, weil es unter das Betäubungsmittelge-
setz fällt. Gestern hatte ich das Gespräch mit dem Psychiater bezüglich meiner
ADS-Abklärung, meine Freundin war auch dabei, und das Resultat lautete:
Jawohl, ich habe ADS, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Früher hiess das
POS, Psychisch-Organische-Störung, aber diese Zeiten sind vorbei. Früher
hiess es auch, das wachse sich aus, im Erwachsenenalter wäre es nicht mehr
vorhanden, heute weiss man, dass dem nicht so ist. ADS hat man, wenn man
es hat, ein Leben lang. Bei mir wurde es ein Leben- okay, ein bisheriges Le-
ben lang vermutet, aber nie wirklich abgeklärt. Jetzt habe ich endlich Gewiss-
heit. Aber ich erhielt auch die Empfehlung, eine Therapie durch Ritalin zu
unterstützen, was mir doch etwas Angst machte. Man liest so viel über dieses
Zeug, und auch wenn meine Freundin, die selber ADS hat, damit gute Erfah-
rungen gemacht hat, eine gewisse Angst war da. Ist immer noch da. Aber
vielleicht ist das gar nicht mal schlecht, ein bisschen Angst davor zu haben,
das bewahrt einen vor Dummheiten. Eine halbe Tablette am Morgen, eine
halbe am Mittag, also eine recht geringe Dosierung. Ausserdem, falls die
Wirkung nicht wie gewünscht oder gar nicht eintritt, könne damit immer
wieder abgebrochen werden. Ich war mit dem Versuch einverstanden. Nun
muss ich nur noch herausfinden, wie man die Dinger- die übrigens sehr klein
sind- halbiert, ohne dass die andere Hälfte im Nirgendwo landet. Die Angst,
süchtig zu werden, habe ich nicht mehr, seit ich die erste Hälfte genommen
habe: Die Dinger schmecken grässlich! Zum Glück. Ich verstehe nicht, wie
z.B. Studenten so was freiwillig schlucken können, um ihre Konzentration zu
verbessern, was absolut ins Nichts führt, denn die Wirkstoffe wirken bei Men-
schen mit ADS oder ADHS ganz anders als bei Menschen ohne. Menschen
mit ADS werden eher beruhigt, fokussiert, bei Menschen ohne ADS wirkt es
eher wie Kokain, das ja alles andere als beruhigt. Deshalb ist es ja so wichtig,
dass eine ADS-Abklärung fachlich, sachlich und genau vorgenommen wird,
dass Hausarzt, Psychologe und Psychiater zusammen arbeiten. Die Abgabe
von Ritalin an einen Menschen ohne ADS ist nämlich illegal. Das heisst, ich
darf einem anderen Menschen keine dieser Pillen geben, und wenn ich sie
dabei habe und ins Ausland will, brauche ich ein Dokument, das bestätigt,
dass sie ärztlich verordnet wurden. Vielleicht starten wir der Einfachheit
halber den Versuch mit der Absetzung, wenn wir ins Ausland wollen...
Nebenwirkungen habe ich bisher übrigens keine festgestellt, von Appettit-
losigkeit war nichts zu spüren. Und ich kann sogar, trotz Pille, Prominente
imitieren, auch wenn ich einen Parodien-Dialog von Helmut Kohl und Mar-
cel Reich-Ranicki, der in meinem Bekanntenkreis gerne gehört wird, aus
aktuellem Anlass wohl nicht mehr bringen kann. Dafür habe ich eine andere
Reich-Ranicki-Parodie entwickelt: Was sagte Reich-Ranicki, als er ins Jen-
seits kam? "Das war in der Literatur aber anders bes'rieben!"

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