Sonntag, 22. September 2013
Kurzgeschichte: Dolly Grips und die leuchtende Wohnung
Eine der seltsamsten Exemplare der menschlichen Gattung "Frau"
ist wohl Dolly Grips, und deshalb bin ich- mein Name ist Jimmie
Rohner- auch sehr stolz darauf, dass ich als Assistent für sie arbeiten
darf. Würden Sie ihr einmal begegnen, würden Sie kaum glauben,
dass diese attraktive, kurvenreiche Blondine die wahrscheinlich
klügste Frau ist, der Sie auf Erden begegnen können, geradezu ein
Genie. Einerseits mag dies zwar auch darauf zurückzuführen sein,
dass sie, ihres gefälligen Aeusseren wegen, oft unterschätzt wird,
andererseits aber vor allem an ihrer Beobachtungsgabe, ihrer Bildung
und einer mitgebrachten Genialität. (Dolly selbst meinte, als sie diese
Aufzeichnungen durchsah: "Wie kann meine Intelligenz mit meinem
Aussehen zusammenhängen?")
So seltsam wie Dolly selbst ist auch ihr Job: Sie nennt sich selbst
"Problemhelferin", d.h. sie hilft dort, wo niemand sonst noch weiter
weiss. Die Liste ihrer Klienten- resp. unserer Klienten- reicht von der
armen Hausfrau über den reichen Macker bis zur Regierung. Der Einzige,
dem Dolly nicht helfen kann oder will, bin ich, und deshalb ist es bei uns
beiden bis heute bei einer reinen "Arbeitsbeziehung" geblieben. Nicht
dass kein Interesse da wäre- gelegentliche Neckereien beweisen dies-
sie findet es für uns beide einfach nur "sicherer" so. Was auch immer
das heissen soll...
Ich weiss noch, wie es war, als Carolina Schnitzler vor unserer Bürotür
stand und um Einlass begehrte, eine kleine, dicke Brünette und Mutter
eines Kleinkindes, das überraschend und unverständlicherweise krank
geworden war. Da sie Sozialhilfeempfängerin war, gab es nicht viele
Stellen, an die sie sich wenden konnte, und als sie im Internet auf Dollys
Website gestossen war, dachte sie, das wäre eine Möglichkeit.
"Die Aerzte wissen nicht, was meinem Ciril fehlt", erzählte sie. "Ich habe
nicht viel Geld, aber ich habe mich erkundigt und erfahren, dass Ihnen
das Lösen des Rätsels wichtiger ist als ein hoher Verdienst..."
"Am wichtigsten ist es, zu helfen", meinte Dolly. "Dürfen wir uns das
Kind mal anschauen?"
Das Kind, Ciril, lag in einem Kinderbett im Krankenhaus. Die Mutter
veranlasste, dass der zuständige Arzt uns über alles in Kenntnis setzen
solle, damit wir uns ein Bild von der Sache machen könnten.
"Entweder handelt es sich um eine Krankheit oder um eine Vergiftung",
erzählte dieser. "Wir wissen nicht, um was es sich handelt. Unsere
Diagnostiker sind noch dabei, alle Symptome zu interpretieren. Möchten
Sie eine Kopie der Akte?"
"Das könnte recht nützlich sein, gerne", antwortete Dolly.
Als sie die Akte erhalten hatte, überflog Dolly sie kurz und fragte dann
Carolina: "Wie viele Personen wohnen in Ihrem Haushalt?"
"Ciril, ich und mein Freund Melvin Krumm, Cirils Vater."
"Haustiere?"
"Zwei Katzen. Aber Ciril zeigte noch nie Anzeichen einer Katzenhaar-
allergie, falls Sie das meinen."
"Nein, die Symptome passen nicht", meinte Dolly. "Aber vielleicht wäre
es gut, wenn wir heute abend mal bei Ihnen vorbeischauen. Ginge es so
zwischen acht und neun?"
Pünktlich um halb neun klingelten wir an Carolinas Wohnungstür. Ihr
Freund, Melvin Krumm, ein schlanker, aber dennoch kräftiger Blonder,
war uns gegenüber eher zurückhaltend.
"Er ist Fremden gegenüber etwas misstrauisch", erklärte Carolina, "aber
immerhin geht es ja um seinen Sohn."
Als wir eintraten, kamen sogleich zwei Katzentiere auf uns zu und strichen
uns um die Beine. Das eine Tier war rot, das andere getigert. Auf einmal
spürte ich etwas Warmes, Flüssiges, das von meinem Schuh auf meine
Socke floss.
"Igitt!" rief ich aus, als ich nach unten schaute.
"Was ist los?" fragte Dolly.
"Der Kater hat an mir markiert", beklagte ich mich.
"Das ist kein Kater", wandte Carolina ein.
"Kein Kater?" machte ich. "Aber warum markiert das Tier dann?"
"Nelly pisst dauernd überall hin", erklärte Carolina. "Der Tierarzt wollte
sie deswegen schon einschläfern, aber ich brachte es nicht übers Herz.
Auch wenn ich es schon lange aufgegeben habe, ihr dauernd hinterher zu
putzen..."
"Die Katze ist also inkontinent", murmelte Dolly. "Da kommt mir eine
Idee..."
Mit diesen Worten trat sie zum Lichtschalter und löschte das Licht. Der
Anblick, der sich uns nun bot, war sehr verwunderlich: überall im Wohn-
zimmer und im Gang waren leuchtende Flecken; man hätte kaum glauben
können, dass kein elektrisches Licht mehr brannte.
"Oh mein Gott!" entfuhr es sowohl Carolina als auch Melvin. "Was ist das?"
Dolly knipste das elektrische Licht wieder an. "Katzenurin", erklärte sie,
"enthält einen Inhaktsstoff, der im Dunkeln leuchtet. Dieser Inhaltsstoff ist
giftig. Ihnen beiden hat es weniger ausgemacht, aber Ihr Kleinkind, das
noch am Boden krabbelt, kam damit wahrscheinlich in unmittelbaren Kon-
takt. Sagen Sie das den Aerzten, dann werden sie schon wissen, was zu tun
ist... Ach ja, und hören Sie auf Ihren Tierarzt. Die Katze hat möglicherweise
Blasenkrebs, da kann man nichts machen."
Vor einigen Tagen erfuhren wir, dass Ciril wieder gesund und Nelly einge-
schläfert worden war.
"Sie war eine schlechte Hausfrau", meinte Dolly, als wir über den Fall
sprachen, "aber keine schlechte Mutter."
"Sie liess ihren Sohn durch Katzenpisse krabbeln- wie kannst du da sagen,
sie wäre keine schlechte Mutter?"
"Ganz einfach: Sie hat sich an uns gewendet."
Dieser Logik war nichts entgegenzusetzen...
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