Sonntag, 22. September 2013

Kurzgeschichte: Die Königin der Amazonen


Zeichnung von Les Toil

Die zwei Frauen, die vor der Tür von Destiny Mansion, dem Herrenhaus
des Okkultisten und Magiers Dr. Hiram Destiny in Greenwich Village,
New York, standen und den Meistermagier zu sprechen wünschten,
hätten nicht unterschiedlicher sein können, und doch behaupteten sie,
Halbschwestern zu sein. Die eine war eine grosse, muskulöse Farbige mit
langem schwarzem Haar und strengen Gesichtszügen, die andere war eine
füllige, weisse Blondine. Beide hatten enorm vollen Busen und waren in
nicht viel mehr als Lendenschurz und einen Büstenhalten gekleidet. Die
Farbige war dazu noch mit einem Bogen und einem Köcher mit Pfeilen
bewaffnet. Joy Sweater, Destinys Assistentin, führte die beiden Frauen
ins Sprechzimmer, ohne Fragen zu stellen. Mittlerweile war sie sich ge-
wohnt, dass der Doktor von allerhand seltsamen Gestalten zu Rate gezogen
wurde.
"Mein Name ist Umbrella", sagte die Farbige.
"Und mein Name ist Ariella", sagte die Blonde. "Wir sind Amazonen, und
eigentlich hassen wir beide uns, aber in diesem speziellen Fall..."
"Wir sind Halbschwestern", ergänzte Umbrella. "Unsere Mutter ist Hippo-
lyta, die Königin der Amazonen. Wir kommen in ihrem Auftrag."
"Hippolyta?" fragte Destiny. "Der Name wurde doch schon in der antiken
Literatur genannt. Wie alt werden Amazonen denn?"
"Zu alt, um es in menschlichen Dimensionen nennen zu können", meinte
Umbrella.
"Na gut", machte Destiny. "Worum geht es?"
"Unsere Mutter hat lange weise geherrscht und Themiskyra, unser Staat,
lebte in Frieden mit den umgebenden Ländern, mit Griechenland, mit
der Türkei...Aber dann kam eine entfernte Cousine unserer Mutter, Stacia,
und die fand, Mutter wäre zu nachsichtig geworden, wir Amazonen wären
als kriegerisch und männerhassend bekannt, und sie würde uns diesen Ruf
wieder beschaffen. Mit einer Handvoll getreuer Amazonen kam es zum
Putsch und Stacia rief sich selber zur neuen "Königin der Amazonen" aus.
Und dann liess sie von den umliegenden Gebieten Männer entführen, um
sie gefangenzunehmen und anschliessend zu töten."
"Und was soll ich hierbei tun? Das klingt mir nicht sehr okkult."
"Die wenigsten Menschen glauben heutzutage noch an Amazonen", meinte
Umbrella. "Ein Okkultist aber, einer, der von Berufs wegen mit den seltsam-
sten Wesenheiten zu tun hat..."
"Schon gut, ich habe verstanden", wand Destiny ein. "Ich helfe euch. Aber
ich will nicht in irgendwelche politische Auseinandersetzungen gezogen
werden."
"Einverstanden."
"Und wie kommen wir nach Themyskira?"
"Ich habe eine Möglichkeit", meinte Umbrella und liess einen schrillen Pfiff
ertönen. Daraufhin erschien vor dem Fenster ein kräftiges, schwarzes, geflü-
geltes Pferd. "Das ist Pesos", erklärte Umbrella, "ein Nachkomme des Pega-
sus."
"Er kann uns nicht alle tragen."
"Richtig, und Ariella war ihm schon bei der Hinreise zu schwer. Aber habt
Ihr nicht ein Dimensionentor?"
"Ihr seid gut unterrichtet."
"Unsere Mutter lehrte uns, wie wir in der Welt der Menschen überleben können,
das beinhaltete auch das Lesen von Zeitungen", meinte Ariella.
Pesos hob mit Umbrella auf dem Rücken ab, und Destiny, Joy und Ariella bega-
ben sich zum Dimensionentor.

Stacia, eine kräftig gebaute, rothaarige Amazone, sass, die Krone auf dem Kopf,
auf dem Thron von Themiskyra und blickte auf die in Ketten gelegten Männer,
die vor ihr knieten.
"So ist es recht", sprach sie. "Wie vielen Menschenfrauen habt ihr wohl das
gleiche angetan?"
"Ich habe nie..." hob ein älterer Grieche zu sprechen an.
"Schweig!" schrie Stacia. "Männer lügen eh, sobald sie den Mund aufmachen!"
"Da wäre ich nicht so sicher!" erklang eine kräftige Männerstimme von ganz
hinten. Es war Dr. Destinys Stimme, der soeben mit Joy und Ariella den Thron-
saal betreten hatte.
"Die Dicke!" schrie Stacia. "Mit menschlicher Begleitung! Ergreift sie!"
Die Amazonen, die um den Thron und bei den Gefangenen standen, kamen auf
die Besucher zu. Joy war die erste, der es auffiel: "Ihre Augen!" rief sie. "Sie
stehen unter Hypnose!"
"Niemand hat gesagt, dass wir es mit hypnotisierten mythologischen Kriegerin-
nen rumschlagen müssen!" warf Destiny Ariella zu.
"Deshalb brauchten wir ja einen Magier", versuchte diese, während sie kämpfte,
zu erklären. "Stacia hat irgendwo magische Kräfte erlangt."
In diesem Augenblick traf Umbrella auf Pesos ein und verschoss Pfeile auf die
gegnerischen Amazonen. Sowohl Umbrella als auch Ariella schlugen sich recht
gut: Umbrella konnte aus der Luft angreifen, ohne in den Nahkampf einzutreten,
und Ariella knockte die meisten Angreiferinnen allein schon dadurch aus, dass
sie in einer klar höheren Gewichtsklasse spielte.
"Wir müssen sie von der Hypnose befreien!" rief Destiny Joy zu. "Helfen Sie
mir dabei!"
"Das wird euch nie gelingen!" höhnte Stacia, die dies mitangehört hatte. "Circe
selber hat mir diese Kunst beigebracht."
"Also los!" meinte Joy und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich, und plötz-
lich umstrahlte sie ein helles Licht, das von ihr ausgehend alles anstrahlte. Es war
die mysteriöse "Seelenessenz", deren Trägerin Joy war und mit deren Macht, das
Gute verstärkt werden konnte. Während Destiny magische Formeln murmelte,
setzte Joy ihre Seelenessenz ein. Die ersten Amazonen schienen wieder zur Ver-
nunft zu kommen und fragten, was los wäre. Ariella erklärte es ihnen, und sie
stellten sich, eine nach der anderen, gegen Stacia, die einer solchen Uebermacht,
im Verbund mit einem Magier und der Seelenessenz, nichts entgegenzusetzen
hatte und flüchtete. Währenddessen befreite Umbrella die gefangenen Männer
und riet ihnen, zu fliehen.
Stacia kam nicht weit. Sie rannte geradewegs in die Arme einer wohlgeformten,
grossgewachsenen Amazone, deren Sinnlichkeit jene aller anderen Amazonen
bei weitem überstrahlte.
"Mutter!" riefen Umbrella und Ariella.
"Königin Hippolyta!" riefen die einen, "Majestät!" die anderen.
"Dachest, du könntest so leicht entkommen, Stacia", sprach Hippolyta. "Nun,
ich lasse Gnade walten. Aus Themiskyra bist du lediglich verbannt. Und nun-
geh!"
Mit hängendem Kopf verliess Stacia den Thronsaal, Umbrella, Ariella, Destiny
und Joy aber warf sie einen bösen Blick zu und meinte: "Eines Tages werde ich
mich rächen!"
Die rechtmässige Amazonenkönigin, die nun wieder auf ihrem Platz sass, liess
ein Fest ausrichten, und Dr. Destiny und Joy waren als Ehrengäste geladen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen