Sonntag, 15. September 2013

Kurzgeschichte: Die Zauberin aus der Vergangenheit


Zeichnung von Les Toil

Dr. Destiny, seine Assistentin Joy Sweater, ihr Freund Mark Gordon und dessen
schwarzer Belgischer Schäferhund Blackbox sassen im Wohnzimmer von Desti-
nys Herrenhaus Destiny Mansion in Greenwich Village, dem Künstlerviertel von
New York. Destiny las in Eliphas Lèvis "Geschichte der Magie", Joy und Mark
schauten sich "Charmed" im Fernsehen an. Plötzlich wurde die Stille durch ein
Poltern aus Destinys Arbeitszimmer gestört. Alle drei plus Hund sprangen auf
und rannten hinüber ins Arbeitszimmer. Das Dimensionentor pulsierte, und auf
dem Fussboden lag eine hübsche, kurvige Frau mit haselnussbraunem, langem
Haar und mittelalterlich anmutender Kleidung. Sie kam zu sich.
"W...wo bin ich?" fragte sie.
"Destiny Mansion, Greenwich Village, New York", antwortete Destiny.
"Destiny Mansion?" Die Frau schien verwirrt. Sie blickte zur Decke und sah die
brennende Glühbirne. "Was ist das?"
"Eine Glühbirne", antwortete Mark.
"Eine Glühbirne? Ist dies Zauberei?"
"Aber nein", schmunzelte Destiny. "So was gibt es seit etwa 1840, als Thomas
Alva Edison..."
"1840?" unterbrach die Frau. "Was für ein Jahr haben wir denn?"
"2013", antwortete Joy.
"2013? Das würde ja heissen", sprach die Frau, "dass ich ganze...321 Jahre in die
Zukunft gereist bin...!"

Nachdem die seltsame Besucherin ihren ersten Schock überwunden hatte, setzten
sich alle ins Wohnzimmer, und die mysteriöse Frau begann zu erzählen:
"Mein Name ist Raven Sylverhawk. So nannte mich jedenfalls meine Grossmutter,
bei der ich aufwuchs, nachdem meine Eltern durch mysteriöse Umstände gestorben
waren. Meine Grossmutter lehrte mich die geheimen Künste und brachte mir bei,
diese nur zum Wohle meiner Mitmenschen einzusetzen. Und dann bekam ich es
mit der Angst zu tun und floh nach New York, als die Hexenprozesse begannen..."
"Von wo?" fragte Joy.
"Salem, Massachusetts, nicht wahr?" meinte Destiny. "Die Hexenprozesse von
1692?"
"Ich hatte wohl recht zu fliehen", meinte Raven. "Auch 321 Jahre danach ist es noch
nicht vergessen worden."
"Diese Prozesse sind heute Geschichte. Aber erzählen Sie weiter."
"Bitte? Ihr sprecht so seltsam?"
"Oh, entschuldigung. Bitte erzählet weiter."
"Es gelang mir, ein Zeitportal zu öffnen. Ich wollte meine Grossmutter in der Vergan-
genheit aufsuchen und um Hilfe bitten."
"Und stattdessen landet Ihr hier. In der Zukunft."

Das Portal leuchtete erneut auf.
"Oh nein!" rief Raven. "Jemand muss mir gefolgt sein!"
Tatsächlich stürzte im nächsten Augenblick ein schwarzgekleideter Mann mit einer
der im Barock üblichen Perrücken auf dem Kopf aus dem Portal.
 
Als er sich aufrichtete, war deutlich das Kreuz über seiner Kleidung zu sehen. Ein
Geistlicher.
"Ha!" schrie er, als er Raven erblickte. "Ich weiss nicht, wo wir hier sind oder was
für ein Teufelsspuk dies hier ist. Aber weder der Satan noch seine Hexen werden
meine Stadt je unterwandern!" Er hielt Raven das silberne Kreuz entgegen und
schrie: "Weiche von mir, Teufelsdienerin! Weiche von mir!"
"Reverend Parris", versuchte Raven zu Wort zu kommen. "Was mit Euren Töchtern
geschah, hat nichts zu tun mit Hexerei..."
"Schweigt, elendes Weib!"
Da trat Destiny dem Geistlichen entgegen: "Würdet Ihr mir die Ehre eines Gespräches
gewähren, Mann Gottes?"
"Wer seid Ihr?"
"Hiram Destiny, ein Mann, der sich mit dem Göttlichen befasst, wie Ihr es auch tut.
Ihr seid Reverend Samuel Parris*, der Pfarrer von Salem in Massachusetts, nicht
wahr?"
"Mein Ruf scheint mir vorauszueilen."
"Nun, die Entwicklungen in Eurer Stadt sind weitherum bekannt geworden. Ich
selber habe die Berichte, die mir aus Salem gesandt wurden, untersucht. Ich bin
nämlich zugleich auch Wissenschaftler, müsst Ihr wissen. Und ich denke, zu wissen,
was mit Euren Töchtern geschehen ist."
"Der Satan hat sie sich geholt!"
"Vielleicht. Vielleicht aber auch etwas anderes. Erlaubt mir, Euch etwas zu zeigen."
Er ging zu seiner Bibliothek und entnahm ihr einen alten Folianten, den er auf einer
Seite aufschlug, auf welcher die gezeichnete Abbildung eines Aehre mit einem schwar-
zen Punkt zu sehen war. "Seht Ihr diese schwarze Verfärbung an der Aehre? Es han-
delt sich um Mutterkorn, einen giftigen Pilz, der Getreide befällt. Wird Mutterkorn
mit dem Brot eingenommen, können Symptome auftreten wie Halluzinationen, Fie-
berwahn, Veitstanz und schliesslich Tod."
"Ihr denkt also...?"
"Ich denke, bei der Durchsicht aller mir übermittelten Details, dass Eure Töchter
versehentlich mit Mutterkorn kontaminiertes Brot gegessen haben."
"Das würde heissen, dass...?"
"Weder Hexerei noch der Teufel die Finger im Spiel hatten."
"Gott sei gedankt! Das ist doch sehr beruhigend. Ich danke Euch für diese Auf-
klärung." Er schüttelte ihm die Hand, dann blickte er sich um. "Doch wie komme
ich wieder nach Hause?"
Destiny deutete auf das Dimensionentor: "Geht nur hier hindurch, alles andere
wird sich geben."
Parris betrachtete das Tor lange. "Ich traue diesem Teufelsspuk nicht", meinte
er.
"Seid ganz beruhigt, frommer Mann", meinte Destiny. "Dies ist lediglich eine
meiner Erfindungen, die es erlaubt, von Ort zu Ort zu kommen. Als ich sie baute,
folgte ich einzig und allein göttlichen Eingebungen. Aber sie ist noch nicht ganz
ausgereift; ich muss Euch also bitten, darüber Stillschweigen zu bewahren."
"Seid unbesorgt", sprach Parris und trat durchs Tor. "Nochmals danke, und Gott
behüte Euch."
Kaum war dies ausgesprochen, leuchtete das Tor auf, und Parris war verschwun-
den.
"Ist er...?" fragte Joy.
"Dorthin zurückgekehrt, wo er herkam. Ins Jahr 1692."
"Und ich?" fragte Raven.
"Ich fürchte, auch Ihr müsst zurückkehren in Eure Zeit. Wir dürfen keine Verän-
derungen im Raum-Zeit-Gefüge anbringen, deshalb bleibt nichts anderes übrig..."
"Im was?"
"Tretet einfach nur hindurch. Und seid unbesorgt; die Häscher werden Euch nicht
erwischen."
"Euer Wort in Gottes Ohr. Und in jenem der Göttin ebenso", meinte sie, als sie
durchs Tor trat und kurz darauf auch verschwand.

"Doktor?" fragten Mark und Joy, als wieder Ruhe eingekehrt war. "Wie können
Sie so sicher sein, dass sie nicht verbrannt wird?"
"Erstens wurden die Hexen in New England damals nicht verbrannt, sondern
gehängt", belehrte Destiny. "Und zweitens ist ihr Name in keiner der Chroniken
der Salemer Hexenprozesse, deren Abschriften sich in meiner Sammlung magi-
scher Artefakte und Schriften befindet, verzeichnet."

*Samuel Parris war tatsächlich der Name des Geistlichen in Salem, Massachu-
setts, der die Hexenjagd, nachdem seine Töchter als erste die beschriebenen
Symptome zeigten, anfing. Das Bild im Inneren des Textes ist ein Portrait des
Predigers aus der damaligen Zeit. Den Namen des Künstlers konnte ich leider
nicht ausmachen. (Anmerkung des Autors)



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