Mittwoch, 28. August 2013

Kurzgeschichte: Dolly Grips und der Blatttrompeter

Hin und wieder kommt es sogar vor, dass Fachleute Dolly Grips
um ihre Hilfe anfragen. So z.B. Dr. Knarz, ein kleiner, älterer
Herr, Allgemeinmediziner aus dem schönen Ort Vordernau.
"Ich bin hier mit dem Einverständnis eines Patienten", erklärte
er, "dessen Diagnose mir Probleme bereitet. Er ist 60 Jahre alt,
Musiker und heisst Peter Nürggi. Er leidet an starken Problemen
im Magen-Darm-Trakt und beim Wasserlassen."
"Ich nehme an", unterbrach Dolly, "dass Sie die üblichen Ver-
dächtigen wie Blinddarm, Magen-Darm-Grippe und Prostata
bereits ausgeschlossen haben?"
"Der Blinddarm ist weg, eine Grippe kann es nicht sein, und
die Prostata ist in Ordnung. Als ich nicht mehr weiter wusste,
machte ich ihm den Vorschlag, Sie hinzuzuziehen. Ich habe
von Ihren Erfolgen im Lösen kniffliger Rätsel gelesen, und
dass Sie Ihre Hilfe als 'Problemhelferin' anbieten; und ich
dachte, vielleicht würden Sie hier ja auch helfen können."
"Ich werde es jedenfalls versuchen. Wie krank ist er?"
"Durchfall, Magenschmerzen und eben Brennen beim Wasser-
lassen. Ansonsten ist er okay. Er hat sogar heute Abend ein
Konzert, wie ich gehört habe. In Mittelnau. Die Band heisst
'Nürggi und die Kracher'."
"Welches Instrument spielt er?"
"Das weiss ich leider nicht. Ich komme leider kaum dazu, ein
Konzert zu besuchen."
Dolly wandte sich mir zu: "Jimmie, wie wäre es mal wieder
mit einem Konzertbesuch?"
"Gerne", antwortete ich, meines Zeichens übrigens Jimmie
Rohner, Dollys Assistent. "Solange es nichts folkloristisches
ist."

Es war folkloristisch, sogar die für meine geplagten Ohren
schlimmste Art von folkloristisch: Ländlermusik. Wenigstens
war es gut gespielt. Interessant waren aber vor allem die Instru-
mente. Es handelte sich um eine jener Gruppen, welche mit
aussergewöhnlichen Instrumenten Musik machten, wie Pfan-
nendeckeln, alten Fahrradschläuchen oder Müllsäcken. Hätte
es sich um etwas anderes als volkstümliche Musik gehandelt,
hätte es wahrscheinlich sogar gut geklungen, aber leider konn-
te ich mich für diese Art der Musik nie besonders erwärmen.
Dolly hatte da weniger Probleme. Während ich mir stellen-
weise am liebsten die Ohren zugehalten hätte, wippte sie im
Takt und pfiff die doch recht simplen Melodien mit. Nürggi
selber blies in irgendetwas hinein, aus dem er Töne entlockte,
ähnlich denen eines Löwenzahnstiels, wenn man hineinbläst
(was ich als Kind immer gerne getan hatten). Ich konnte nicht
ausmachen, worauf er da spielte. Er hielt es fast wie eine Mund-
harmonika, doch es war keine. Auch eine Maultrommel war
es nicht, obwohl der Klang einer solchen doch etwas ähnlich
war.
"Was ist das für ein Instrument?" fragte ich Dolly laut genug,
um von ihr, trotz der Musik gehört zu werden und leise genug,
um nicht aufzufallen.
"Wir müssen näher ran", meinte sie. Was für ein Genie, als
wäre ich da nicht auch schon drauf gekommen!
Wir bahnten uns einen Weg durch die Zuhörer und Tänzer,
von denen, wie ich verwundert feststellte, einige sogar jünger
als ich waren. Endlich fanden wir einen Platz mit guter Sicht
auf die Bühne.
"Ein Blatt", stellte ich verwundert fest. Es war tatsächlich ein
in der Mitte zusammengefaltetes Blatt mit- wie ich annahm-
einem kleinen Schnitt in der Mitte, durch den der Spieler die
Töne erzeugte.
"Ich sehe sogar, was für ein Blatt es ist", meinte Dolly. "Ich
muss unbedingt mit ihm reden."

Als die Musiker endlich eine Pause machten und sich an einen
der vorderen Tische setzten, traten Dolly und ich an Nürggi
heran.
"Herr Nürggi?" fragte Dolly. "Dürfte ich Sie kurz sprechen?"
"Aber natürlich", antwortete der Musiker lächelnd. "Immer
heraus mit der Sprache! Was kann ich für Sie tun?"
Dolly beugte sich zu ihm herunter und senkte die Stimme:
"Mein Name ist Dolly Grips. Dr. Knarz bat mich um Hilfe in
Ihrem Fall. Ich würde gerne ungestört mit Ihnen sprechen."
"Na gut." Er stand auf und führte uns zu einem Plätzchen
etwas ausserhalb des Festzeltes, in welchem das Konzert
stattfand. "Also", begann er, "Sie wissen, woran ich erkrankt
bin?"
"Sie sind nicht erkrankt", antwortete Dolly. "Sie wurden ver-
giftet."
Entsetzt starrte er uns an, erst Dolly, dann mich, doch ich
starrte ebenso erstaunt Dolly an.
"Vergiftet?" brachte er dann hervor. "Aber weshalb? Von
wem?"
"Von Ihnen selbst", antwortete Dolly. "Durch Ihr Instrument."
"Wie kann das...?"
"Es handelt sich doch um ein Efeublatt, nicht wahr?"

"Ja, aber..."
"Es gibt nicht mehr viele Leute, die wissen, dass Hedera helix,
der Gemeine Efeu, in allen Pflanzenteilen Giftstoffe enthält.
Die Symptome einer Efeuvergiftung zeigen sich im Magen-
Darm-Trakt und im urologischen Bereich. Genau Ihre Krank-
heitssymptome! Und Sie machen dies wohl schon seit Jahren,
nicht wahr?"
Er hielt sich den Kopf. "Werde ich daran sterben?" fragte er.
"An der Efeuvergiftung? Nein, die sorgt nur für die Symptome,
tödlich verläuft sie nicht."
"Ich muss mich also zwischen meiner Musik und meiner Gesund-
heit entscheiden." Er schüttelte den Kopf und meinte dann: "Ich
werde gleich morgen früh Dr. Knarz anrufen. Er soll mir Medizin
gegen die Symptome verschreiben."
"Es ist Ihre Entscheidung", meinte Dolly und drückte ihm zum
Abschied die Hand.

Einige Jahre später stand eine Notiz in der Zeitung, dass Peter
Nürggi, Kopf der Gruppe "Nürggi und die Kracher", sich aus
dem aktiven Musikgeschäft zurückgezogen hätte. Eine akute
Erkrankung im Magen-Darm-Bereich hätte es ihm unmöglich
gemacht, weiter auf der Bühne zu stehen.
"Hätte er doch stattdessen einen Löwenzahnstiel genommen!"
entfuhr es mir, als ich dies gelesen hatte.

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