Freitag, 13. Juli 2018

"Elsa", Kapitel 12

Die Stunde war noch nicht zu Ende, als Pro-
fessor Meister sich räusperte und zu der
Klasse sprach: "Unsere Mitschülerin Elsa
von Tavel bat mich vor der Stunde, ihr etwas
Zeit einzuräumen, da sie eine Mitteilung zu
machen hätte. Bitte, Frau von Tavel..."
Elsa stand auf. "Danke, Herr Professor. Ich
möchte mich von euch allen verabschieden.
Ich trete morgen eine Drogenentziehungskur
an."

Schweigen. Staunende Gesichter in der Klas-
se.
"Ich bin seit einigen Monaten kokainabhän-
gig."
Stöhnen. Seufzen. Elsa seufzte auch, bevor
sie weitersprach: "Weiter muss ich alle
Jungs, die mit mir Geschlechtsverkehr hat-
ten, bitten, sich einem AIDS-Test zu unter-
ziehen."
Offene Münder.
"Ich habe kürzlich erfahren, dass ich den
Virus in mir trage. Ich habe mich prostituiert,
um das Studium zu finanzieren. Dabei muss
es passiert sein."
Ein Junge in den hinteren Reihen fiel vom
Stuhl. Es war Charlie.
"Sagt es bitte auch in den anderen Klassen
weiter. Ein Psychiater wird mir helfen, mei-
nen Sextrieb unter Kontrolle zu bringen.
Danke." Sie senkte den Kopf. "Verzeiht mir."

Die Jungen standen in der Pause wieder zusam-
men.
"Und so eine nanntest du deine Freundin", putz-
te einer Charlie runter.
"Ach, hör doch auf!" knurrte Charlie. "Ich weiss,
was ich jetzt zu tun habe." Er verliess die Gruppe.
"Mit der kannst du jetzt nichts mehr anfangen!"
schrie ihm der Andere nach. "Ein Kuss, und du
bist infiziert!"

Elsa sass allein auf einer Mauer und weinte.
Charlie trat zu ihr heran.
"Hey", sagte er.
Sie schaute auf. "Hey", entgegnete sie.
Er setzte sich neben sie, nahm sie in die Arme
und gab ihr einen Kuss.
"Hast du keine Angst?" fragte sie, immer noch
unter Tränen.
"Man kriegt AIDS nicht durch Küsse. Da braucht
es schon etwas mehr."
"Was, wenn du es auch hast?"
"Schicksal."
Ein leichtes Lächeln kam über ihr verweintes Ge-
sicht. "Du magst mich wirklich?"
"Ich mag dich wirklich."
Sie gab ihm ein Küsschen auf die Wange.
"Man kiegt AIDS nicht durch Küsse", sagte sie
und ging.

Charlie kam zu seiner Gruppe zurück.
"Geht ihm aus dem Weg!" schrie einer. "Er hat sie
geküsst! Er bringt euch den Tod!"
"Rührt ihn bloss nicht an!" rief ein Anderer.
"Haut ab!" brüllte ein Dritter.
"Haut nur ab!" brüllte Charlie hinter ihnen her. "Ich
brauche eure Freundschaft nicht!"
Ganz alleine blieb er auf dem Campus zurück, eine
für ihn ungewohnte Situation. Dennoch fühlte er
sich so gut wie selten zuvor.

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