Donnerstag, 26. Juni 2014

Kurzgeschichte: Die Telefonkarte

Martin sass im Tea-Room der psychiatrischen Klinik, ganz in der Nähe
der Telefonzelle, als der verrückte Gregor hereinkam. Martin mochte
Gregors verschrobene Art, auch wenn er ihm manchmal ziemlich auf
die Nerven ging. Gregor stammte aus verarmtem Landadel, und da
er seine Familiengeschichte nie so wirklich überwunden hatte, war
er zuerst in den Drogen und dann in der Psychiatrie gelandet. Er
war frisch rasiert.
"He, hallo!" rief er, als er Martin erblickte. "Was machst du denn
hier?"
"Einen Besuch abstatten. Und du?"
Gregor setzte sich. "Ich bin wieder hier", sagte er.
"Schon wieder?" fragte Martin.
Gregor nickte. "Sag mal", begann er dann, "könntest du mir 20
Franken leihen? Ich muss ins Dorf, was einkaufen gehen."
"Nein, kann ich nicht."
"Hast du kein Geld dabei?"
"Klar hab' ich Geld dabei. Ich kann dir bloss keine 20 Franken
leihen."
"Warum nicht? Ich geb' dir meine Telefonkarte als Pfand.
20-fränkige Telefonkarte. Hat noch 18.80 drauf." Er legte seine
Telefonkarte auf den Tisch. "Kannst sie haben. Oder ich schick'
dir das Geld zurück, wenn du mir deine Adresse gibst."
"Das ist mir zu riskant. Dann machst du irgendeinen Scheiss
damit, und ich bin schuld."
"Ich mach' keinen Scheiss damit. Ich nehm' keine Drogen mehr.
Ich bin sauber."
"Es ist mir trotzdem zu riskant. Kannst du nicht hier etwas trinken?
Das würde ich dir bezahlen."
"Ich muss Wurst und Brot einkaufen. Komm schon, als alte Kolle-
gen...?"
"Seit wann bist du mein Kollege?"
Sie schwiegen einander an. Erst jetzt bemerkten sie, dass sich nie-
mand sonst in dem Tea-Room befand.
"Sag mal", brach Martin das Schweigen, "ist es hier neuerdings
immer so ruhig?"
"Strengere Regeln", erklärte Gregor. "Weniger Ausgang. Da ich
eh als 'therapieresistent' gelte, haben sie's bei mir nicht durchge-
bracht. Also, wie steht's nun um die 20 Franken?"
"Ich kann dir drei Franken geben." Martin holte sein Portemon-
naie hervor und kramte drei Franken heraus, die er auf den Tisch
legte. Gregor rührte sie nicht an.
"Wieso keinen Zwanziger?" fragte er.
"Ich hab' keinen Zwanziger."
"Kannst du nicht wechseln? Ich schick's dir sicher zurück."
"Nimm die drei Franken und versuch's noch bei Ander'n."
Ich hab's schon bei fast allen versucht."
Einer der Klinikgärtner betrat das Tea-Room und lief bei ihnen
vorbei, in der Hand eine Giesskanne.
"Bei dem hast du's sicher noch nicht probiert", meinte Martin.
"Der gibt sowieso nichts", erwiderte Gregor.
"Weiss ich. Aber du hast es noch nicht probiert."
Martin blickte auf die Telefonkarte. Seine eigene war fast leer.
"Eine Telefonkarte könnte ich schon gebrauchen", meinte er.
"Mal sehen, wie viel wirklich drauf ist." Er nahm die Karte und
betrat die Telefonkabine. Wie Gregor gesagt hatte: 18.80.
"Also gut", meinte Martin dann und ging zur Kasse, wo er sich
einen 50er wechseln liess. Dann kam er mit einem 20-Franken-
Schein zu Gregor zurück und gab ihm diesen. Die drei Franken
lagen nicht mehr auf dem Tisch.
"Meine drei Franken musst du mir aber zurückgeben", tadelte er.
Gregor kramte die drei Franken aus seiner Hosentasche und legte
sie zurück auf den Tisch.
"Ich habe dir nun deine Telefonkarte abgekauft", erklärte Martin,
"du schuldest mir nichts."
"Danke, Martin", sagte Gregor, stand auf und verschwand.

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