Freitag, 30. November 2012

Kurzgeschichte: Das Ungeheuer im Römerbad

Niemand wusste, wieso es in dem stillgelegten alten Römerbad spukte, aber so war
es nunmal, und keiner redete offen darüber. Bis zu jenem Tag, als die beiden Frem-
den kamen. Der Mann war schon etwas älter, sein Haar begann bereits zu ergrauen,
er trug einen Schnurrbart und um den Hals ein Pentagramm. Auch war er gross und
schlank, im Gegensatz zu seiner Begleiterin, einer jungen, kleinen und kugelrunden
Brünette. Man erzählte sich, er wäre ein Magier aus New York, ein gewisser Dr. De-
stiny, und sie wäre seine Assistentin Joy Sweater.
"Es ist kalt hier heute abend", meinte der Magier.
"Ich merke davon nichts", sagte die Frau.
"Ach ja, wegen Ihrer speziellen Fähigkeiten", meinte er. "Na ja, derjenige, der uns
angefordert hat, sollte bald hier sein."
Kaum, dass er dies ausgesprochen, trat auch schon eine dritte Person hinzu, ein
ergrauter Herr im Anzug. "Dr. Destiny?" fragte er.
"Der bin ich", antwortete der Magier.
Der Andere reichte ihm die Hand. "Elias Northway, Rektor des Gymnasiums. Das
alte Römerbad gehört zu unserer Liegenschaft."
"Und weswegen brauchen Sie unsere Hilfe?"
Northway blickte auf die Uhr. "Bald Mitternacht. Sie werden es gleich erleben."
Kaum ausgesprochen, begann die Kirchturmglocke auch schon Mitternacht zu
schlagen.
"Nun friert es mich auch", sagte Joy. Destiny blickte sie irritiert an. Es war ausser-
gewöhnlich, dass seine Assistentin fror. Sie war die Trägerin einer speziellen Kraft,
welche als "Seelenessenz" bezeichnet wurde, was ihr einige übersinnliche Fähig-
keiten verlieh, zu denen auch gehörte, dass sie niemals fror. Etwas Unheimliches
musste hier vor sich gehen. Plötzlich ertönte ein lauter Knall.
"Ich muss gehen", war das Letzte, was Northway noch sagen konnte, bevor er Ver-
sengeld gab und davon rannte.
"Hier ist etwas", meinte Joy.
"Ja", erwiderte Destiny. "Sogar ich spüre es."
"Als ob mehrere Augenpaare auf uns gerichtet wären, so fühlt es sich an."
"Zu sehen ist niemand."
"Aber Jemand ist hier. Etwas ist hier."
"Wollen doch mal sehen, ob wir etwas heraus bekommen."
Mit diesen Worten betrat Destiny die Arena, gefolgt von Joy. Ein eisiger Wind umgab
sie, der ihnen den kurzen Weg die Stufen hinab erschwerte. Als ob etwas sie davon
abhalten wollte, runterzukommen. Unten angekommen blickte Destiny sich um.
"Wo ist von hier aus Osten?" fragte er.
Joy deutete in diese Richtung. "Das müsste dort drüben sein."
"Gut." Er nahm einen Ast zur Hand und zeichnete zuerst einen grossen Kreis auf den
Boden, darin ein Pentagramm mit der Spitze nach Osten. Instinktiv spürte Joy, dass
sie zu ihm in den Kreis treten sollte. Sobald sie drin war, fror sie nicht mehr. Auch
vom Wind bekamen sie nichts mehr zu spüren, der ausserhalb des Kreises wütete.
Destiny zündete eine weisse Kerze an und stellte diese in die Mitte des Penta-
gramms. Dann hob er beschwörend die Arme und sprach mit voller, kräftiger
Stimme: "Wer oder was auch immer hier ist, zeige dich! Wer oder was auch immer
hier ist, offenbare dich uns! Erkläre dich uns! So spricht der Meister der Magie!
So sei es! So sei es! So sei es!"
Langsam nahm eine nebulöse Gestalt in der Dunkelheit Form an. Auffallend war,
dass diese drei untereinanderliegende Augenpaare in einem reptilienhaften
Gesicht hatte.
"Hiram Dessstiny", zischte die Gestalt. "Ich wussste, du würdessst irgendwann kommen."
"Wer bist du?" fragte Destiny mit entschlossener Stimme. "Was willst du?"
"Meinen Namen verrate ich dir nicht. Wasss ich will, isst einfach: Vor Jahren wurde
ich hier von einer Gruppe weisssser Hexxxen fessstgessetzt, damit ich keinen
Schaden anrichten kann. Nur ein weisssser Magier kann mich befreien. Und wer
wäre hierfür bessser geeignet alsss der gegenwärtige Meisssster der Magie
perssssönlich?"
"Was hast du angestellt, dass dich die Hexen hierher verbannt haben?"
"Dasss, wofür ich geschaffen wurde: Menschen erschreckt, Unheil verbreitet, Leben
zerssstört, kurzzz: dasss Bössse über die Welt gebracht."
Destiny versuchte, dem Untier standhaft in eines seiner sechs Augenpaare zu blicken,
während er überlegte, was er tun sollte. Er wusste, dass das Untier auf keinen Fall
befreit werden durfte, doch um es stärker bannen zu können, fehlte ihm das, was
ihm Macht über das Wesen hätte geben können: sein Name.
"Morgen um die gleiche Zeit", sprach er dann, "komme ich wieder."
Das Ungeheuer blickte ihn aus vier seiner sechs Augen streng an: "Keine faulen
Tricks, Desssstiny! Oder meine Rache wird furchtbar sssein!"
Inzwischen war eine Stunde vergangen, der Kirchturm schlug eins.
"Ich mussss gehen", sagte das Monster und löste sich in Luft auf.
"Puuh!" Destiny atmete erleichtert aus. "Ich glaube, wir können den Schutzkreis
aufheben."
Er zeichnete ihn in umgekehrter Reihenfolge nach, bevor Joy und er heraus-
traten.
"Es ist nicht mehr kalt" sagte Joy.
"Doch, ist es", erwiderte Destiny. "Sie bekommen es nur nicht mehr mit."
"Und was machen wir nun?"
"Gehen wir. Wir haben viel zu tun. Bis morgen um Mitternacht müssen wir
herausfinden, um was für ein Wesen es sich handelt. Wir brauchen seinen
Namen, um es zu bannen."
 
Die Müdigkeit war Destiny schon zur Mittagsstunde anzusehen. Spät erst war
er zu Bett gegangen, frühmorgens war er bereits wieder aufgestanden, um in
seinen Büchern und Folianten nachzuschlagen. Ohne Erfolg. Auch im Internet
war nichts über ein reptilienhaftes Geister-Ungeheuer mit sechs Augen zu finden.
Er hatte mit seiner Ex- Freundin, der Wetterhexe Rebecca und mit deren
Hohepriesterin Leila telefoniert, in der Hoffnung, dass eine von ihnen mehr
darüber weiss. Beide hatten versprochen sich umzuhören. Es war bereits vier
Uhr nachmittags, als die Türglocke von Destiny Mansion, Dr. Destinys Wohnsitz
in Greenwich Village, dem Künstlerviertel von New York, erklang. Joy öffnete.
Vor der Tür stand Leila Eatingham, eine mollige, vollbusige Weisse Hexe mit
brünetten Locken, in Begleitung einer grossen, üppigen Dame, deren langes,
graues Haar in Kontrast zu ihrem noch jung wirkenden Gesicht stand. Auf ihrem
Busen prangte ein silbernes Pentagramm, das Zeichen der Hexen, Druiden und
Magier.
"Das ist Connie Robinson", stellte Leila sie vor. "Möglicherweise kann sie euch
bei eurem Fall helfen."
 
Leila Eatingham und Connie Robinson sassen Dr. Destiny und Joy in Destinys
Wohnzimmer gegenüber und tranken Tee. Interessiert lauschten der Magier
und seine Assistentin, was die ältere Hexe zu erzählen wusste.
"Vor Jahren", erzählte sie, "kam eine Hexe aus China zu Besuch. Wir ahnten
damals nichts Böses und wollten uns in unserem Zirkel mit ihr austauschen.
Sie meinte, sie würde uns einen alten chinesischen Zauber zeigen, falls wir
einen geeigneten Ort für ein Ritual wüssten. Wir führten sie zum alten Römerbad,
da unser Zirkel öfters schon dort Rituale durchgeführt hat. Wir ahnten nicht,
dass sie einen uralten chinesischen Dämon beschwor, den wir nur durch
gemeinsames Bannen in die Schranken weisen konnten. Oder wenigstens teilweise.
Er ist nun dort gefangen, doch zur Geisterstunde erstarkt er und kann einen Teil
seiner Essenz in unserer Dimension materialisieren."
"Das war nur... ein Teil von ihm?" fragte Joy.
"Richtig. Er möchte gänzlich in unsere Welt materialisieren, doch der Zauber
bindet ihn."
"Und wir sollen nun wohl den Dämon gänzlich in die andere Dimension, aus
der er herkommt, verbannen", meinte Destiny. "Was geschah mit dieser
chinesischen Hexe?"
"Sie musste für ihre Bosheit bezahlen. Sie ist tot. Das Untier hat sie verschlungen."
"Warum hat sie es hierher geholt?" fragte Leila.
"Machtgier. Sie hoffte, sich den Dämon gefügig machen zu können. Ging gründlich
daneben."
"Der Dämon ist aus China, nicht wahr?" warf Destiny ein. "Er ist also kein hiesiges
Wesen. Das schwächt ihn, ansonsten wäre er vielleicht längst freigekommen.
Kennen Sie seinen Namen?"
"Ja", antwortete Connie. "Er heisst Fing Fang Fung."
"Sehr gut." Zum ersten Mal an diesem Abend lächelte der Magier. "Wenn wir seinen
Namen kennen, haben wir eine Chance." Er blickte auf die Uhr. "Wir haben noch
etwas Zeit. Wir sollten uns etwas ausruhen, bevor wir dem Untier begegnen."
 
Punkt Mitternacht fanden sich Dr. Destiny, Joy Sweater, Leila Eatingham, Connie
Robinson und die Wetterhexe Rebecca Taylor, die zur Unterstützung von Leila
angefordert wurde, denn je mehr Personen bei der Bannung mithelfen würden,
so Leila, umso wirkungsvoller wäre diese, diese Personen fanden sich beim alten
Römerbad ein. Destiny hatte den Schutzkreis mit dem Pentagramm gezeichnet,
gross genug, damit alle darin Platz fanden, und eine weisse Kerze angezündet. Da
wurde es kalt um den Kreis herum, Nebel zog aus der Dunkelheit hervor, und
schliesslich zeigte das Ungeheuer sein Gesicht.
"Dessstiny", zischte es, "ich sssehe, du hassst Gesssselschaft mitgebracht. Dasss
wird dir aber nichtsss nützzzen!"
Destiny zeichnete mit dem Zeigefinger ein bannendes Pentagramm in die Luft, 
die Hexen taten es ihm nach.
"Hinfort, Dämon!" sprach er mit fester Stimme. "Hinfort mit dir in die chinesische
Unterwelt, aus der du hervorgegangen bist!"
Währenddessen hielt Rebecca ein silbernes Kreuz in der Hand, das sie dem Dämon
entgegenstreckte.
Destiny sprach weiter: "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!
In nomine padri et fili et spiritus santi! Vade retro! Im Namen des grossen Hermes
Trismegistos, des Heiligen Georgs, der Grossen Göttin! Vade retro!"
Das Ungeheuer lachte nur, all der Zauber schien ihm nichts anzuhaben. Doch dann
liess Destiny seinen Trumpf ausspielen, als die Hexen, seine Assistentin und er
gemeinsam im Chor mit fester Stimme sprachen:
"Vade retro, Fing Fang Fung, vade retro! Vade retro, Fing Fang Fung, vade retro!
Vade retro, Fing Fang Fung, vade retro!"
Das Untier heulte auf, es klang wie "Neeeeiiiiin!", bevor es nach dem dritten
Aussprechen seines Namens verschwand.
 
"Ist es vorbei?" fragte Joy.
Destiny blickte auf die Uhr. "Noch nicht ein Uhr. Es ist vorbei. Nur eines bleibt
noch zu tun."
Er zeichnete in jede Himmelsrichtung drei Kreuze und ein bannendes Pentagramm,
bevor sie den Ort verliessen.
 
Und obschon es immer noch vorkommt, dass sich Menschen des Nachts dort unwohl
fühlen, hat man doch nie wieder über einen Spuk gehört...

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