Dienstag, 4. Juni 2013

Aufzeichnungen eines Aussenseiters, 4.6.2013

Hatte heute einen Termin bei einem der Temporärbüros, bei denen ich angemeldet
bin. Eventuell hätte man mir einen Jobeinsatz, meinte mein dortiger Personalbe-
rater. Wir gingen also beide dorthin, um uns das anzusehen. Nun warte ich auf
Bescheid, ob ich am Montag beginnen kann.
Auf dem Weg nach Hause traf ich auf die Kollegin einer Kollegin und ihren mal
wieder quängelnden Sohn.

Ich trat zu den beiden hinzu. Ich hatte den Jungen schon vorher erlebt, da meine
Kollegin ihn öfters hütet. Nun ist in meinem Bekanntenkreis bekannt, dass ich
recht gut mit Kindern klar komme, und tatsächlich gelang es, wenn auch erst
während der Zugfahrt, mit dem Jungen in eine Interaktion zu treten.
Zuvor fragte ich seine Mutter: "Ist er hyperaktiv?"
"Kann gut sein."
"Wurde es nicht abgeklärt?"
"Nein, sein Kleinkinderzieher meinte, er wäre es nicht."
"Warst du schon mal mit ihm am See?"
"Ja, aber ich gehe lieber in's Nachbardorf in's Schwimmbad. Dort gibt es mehr
für Kinder."
"Wenn er doch hyperaktiv sein sollte, wäre der See die bessere Variante. Mehr
Natur."
Wir beliessen es dabei. Der Unterschied zwischen "Reizen" und "Eindrücken"
und was es mit einer "Reizüberflutung" auf sich hat, das wäre zu viel zu er-
klären gewesen. Ich kenne das Problem der "Reizüberflutung" bei mir selber.
Grosse Stadt, viele Menschen, Einkaufszentrum, Grossstadtbahnhof, Lichter,
Lärm...so viele Reize, die auf uns einstürmen, denen wir ausgesetzt sind, ohne
etwas dagegen tun zu können. Kein Wunder, wenn ein sensibles Kind dabei
mal durchdreht! Mir geht es noch heute, als Erwachsener manchmal so.
Sobald wir im Zug waren, kam der Knabe zur Ruhe. Er sah zum Fenster hinaus
und schaute auf den zur Zeit eindrücklichen Fluss. Natur. Eindrücke. Ein
Eindruck ist, laut Gerhard Spitzer, etwas, was wir uns, im Gegensatz zu einen
Reiz, selber aussuchen können. Und gerade Eindrücke, die wir in der Natur
finden, können sehr beruhigend wirken. Während der Zugfahrt konnten wir
normal mit dem Jungen reden und spielen. Richtig, spielen. Mit dem Teddy-
bären, den er bei sich hatte. Kinder lernen durch Spielen. Erwachsene auch,
nur wollen sie es sich nicht eingestehen. "Ist doch Kinderkram!" heisst es
dann oft. Dabei können wir ein Kind nur verstehen, wenn wir uns auf dessen
Welt einlassen können. Auf eine Welt, die aus Spiel und Fantasie besteht.
Kinder bekommen sehr viel mehr mit als die meisten Erwachsenen. Ein
gutes Beispiel ist jener Junge, der, als er in die Sekundarschule wechseln
konnte, dies tat und sich danach total veränderte. Die Schule hatte ihn so
sehr im Griff, dass kaum noch Zeit zum Spielen war. Heute, als Erwachsener,
arbeitet er im Büro, den ganzen Tag an Schreibtisch und Computer, er kommt
nach Hause und arbeitet weiter, er sieht weder den Schmetterling am Weges-
rand noch die hübsche Frau, die ihm im Zug gegenüber sitzt (denn während
der Zugfahrt muss er seine Zeitung lesen). Und es handelt sich bei diesem
Menschen um keinen Autisten! Obschon man sich durchaus fragen kann,
ob es nicht auch anerzogenen Autismus gibt. Dann würde aber der Gross-
teil der erwachsenen Menschen davon betroffen sein! Wollt ihr, liebe Eltern
und Erzieher, wirklich solche Menschen aus uns machen? Wir sind Lebe-
wesen, keine gefühllosen Roboter! Peter Ustinov, der dies wie kaum ein
Anderer begriffen hat, meinte einmal, alt wäre nicht derjenige, der weisse
Haare hat und am Stock geht, sondern derjenige, der verlernt hat zu staunen.
Wie wenig dies verstanden wird, merkte ich bei einem Betriebsessen, als
ein Nachtfalter über unseren Tisch flatterte.
"Wow!" machte ich und zeigte auf ihn.
"Das ist doch nur ein Nachtfalter", meinte eine Arbeitskollegin. "Das ist doch
nichts Besonderes."
Dazu kann ich nur sagen: Doch, ist es! Auch wenn ich vorher schon 100 000
mal Nachtfalter gesehen habe- jeder ist etwas Besonderes! So wie jedes Kind
etwas Besonderes ist. Kinder sind unsere Zukunft. Verbaut uns diese nicht
durch eure Wände aus Ignoranz. Die kommenden Generationen werden es
euch danken...

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