Mittwoch, 22. Januar 2020

Kurzgeschichte: "Gold im Mund"

Der Tatort zeigte ein seltsames Bild. Im Tresorraum der Natio-
nalbank lag deren Präsident, der Südafrikaner Thierry Timms,
auf einem Bürostuhl, gefesselt, im Mund einen Goldbarren.
Als Kommissar Kupfer eintraf, konnte sich sein Assistent Töp-
fer eine Bemerkung nicht verkneifen: "Da kann man wohl sa-
gen: Morgenstund hat Gold im Mund."
"Keine Taktlosigkeiten, bitte", meinte Kupfer. "Ich glaube,
die Frage, wer der Tote ist, erübrigt sich..."
"Die Putzfrau hat ihn heute morgen so vorgefunden", erklärte
Töpfer. "Laut einer ersten Schätzung muss der Tod gestern
nach Feierabend eingetreten sein. Schlag auf den Kopf mit
einem schweren Gegenstand."
Kupfer trat näher und besah sich die Wunde. "Wie schwer ist
eigentlich so ein Goldbarren?" fragte er.
"Sie denken, das war die Tatwaffe?" fragte Töpfer.
"Sieht ganz so aus. Wer hat hier alles Zutritt? Wurde das schon
abgeklärt?"
"Die Putzfrau, die ihn gefunden hat, Frau..." Töpfer griff zu
seinem Notizblock und blätterte darin, ehe er weiterfuhr:
"Hildegard Kniffel. Der Sicherheitsmann, Herr Isaak Lieber-
mann. Der erste Kassier und sein Stellvertreter, der stellver-
tretende Direktor Herr Jakob Jarmann. Und natürlich das
Opfer selber. Sie alle hatten einen Schlüssel für den Tresor-
raum."
"Also sind das die Personen, mit denen wir sprechen sollten",
meinte Kupfer. "Können wir das hier irgendwo in Ruhe ma-
chen?"
"Der stellvertretende Direktor hat sein Büro bereits zur Verfü-
gung gestellt", antwortete Töpfer.
"Sehr gut", meinte Kupfer. "Dann würde ich aber auch gerne
noch ins Büro des Direktors selber schauen. War das sein Bü-
rostuhl?"
"War es. Haben wir bereits abgeklärt."
Kupfer schaute sich um. "Keine Blutspuren. Das Opfer wurde
wahrscheinlich bereits in seinem Büro überwältigt und dann
hier runter gebracht."
"Aber wozu das alles?"
"Wenn ich das wüsste, Töpfer", seufzte Kupfer. "Wenn ich das
wüsste..."

Jakob Jarmann, der stellvertretende Direktor, ein grosser, schlan-
ker, dunkelhaariger Mittvierziger, führte Kupfer und Töpfer ins
Büro des Direktors. Auf dessen Schreibtisch lag eine Zeitung.
Kupfer erblickte die Schlagzeile auf Seite 1.
"Ah", machte er. "Sie sind in der Zeitung."
"Leider recht angriffig", meinte Jarmann. "Timms hatte bei einer
Pressekonferenz bekannt gegeben, dass Raubgold aus der Nazi-
zeit, welches noch in unserem Tresor lagert, nicht zurückgegeben
werde. Er berief sich darauf, dass dieses unserem Institut zur Auf-
bewahrung übergeben worden wäre und dies die Aufgabe einer
Bank sei."
"Da hatte er sich wohl viele Feinde gemacht", bemerkte Töpfer.
"Ich glaube trotzdem, dass wir uns auf diejenigen Personen vor
Ort beschränken können", meinte Kupfer.
"Gehen wir doch nun in mein Büro", sagte Jarmann. "Bitte, hier
entlang. Ach ja, eine Bitte hätte ich: Könnten Sie mich zuerst
vernehmen? Ich bin ein vielbeschäftigter Mann und nun, da Herr
Timms nicht mehr... da werde ich wohl seine Termine auch noch
wahrnehmen müssen."
"Natürlich", beruhigte Kupfer ihn. "Ich wäre Ihnen allerdings sehr
verbunden, wenn sie den Tod Ihres Direktors noch nicht öffentlich
machen."
"Um die Ermittlungen nicht zu gefährden?" fragte Jarmann.
"Und um Aufsehen zu vermeiden", erklärte Kupfer. "Wieso hätte
der Täter das Opfer so herrichten sollen? Wahrscheinlich wollte
er Aufmerksamkeit, auf etwas hinweisen..."
"Ich glaube, ich verstehe", meinte Jarmann.
Im Büro angekommen, setzte Kupfer sich hinter den Schreibtisch,
Töpfer stellte sich daneben hin, und Jarmann setzte sich, für ihn
ungewohnt, auf den Besucherstuhl.
"Dann wollen wir mal", meinte Kupfer. "In welcher Beziehung
standen Sie zu Ihrem Vorgesetzten?"
"Wie Sie schon sagten, er war mein Vorgesetzter."
"Und? War das Verhältnis freundschaftlich?"
"Nicht wirklich. Wir konnten miteinander arbeiten, aber Freunde
waren wir keine. Er war ein ziemlich schwieriger Mensch. Wenn
er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zählte für ihn nur
dies..."
Kupfer nickte. "Wann sahen Sie ihn zuletzt?" fragte er.
"Das war, glaube ich, kurz vor fünf. Ich ging ausstempeln, da sass
er noch in seinem Büro. Er hatte die Angewohnheit, seine Bürotür
offen zu lassen, wenn er da war."
"Hatte er sonst noch irgendwelche speziellen Angewohnheiten?"
"Ausser, dass er ein sturer Bock war? Nein, jedenfalls keine, von
denen ich wüsste."
"Ich denke, das hilft uns vorerst schon mal weiter. Es kann sein,
dass wir noch mal auf Sie zurück kommen müssen..."
"Wie gesagt, ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Aber ich bin vor
Ort, wenn Sie das meinen..."
"Das meinte ich", erwiderte Kupfer. "Würden Sie uns dann bitte
die Putzfrau herein schicken?"

"Hilft uns das wirklich weiter?" fragte Töpfer, nachdem Jarmann
aufgestanden und das Büro verlassen hatte.
"Aber ja", antwortete Kupfer. "Der Direktor liess seine Bürotür
offen stehen. Wahrscheinlich wollte er möglichst alles im Blick
behalten. Wir können also von einem einigermassen misstraui-
schen Menschen ausgehen."
"Was heisst, dass er seinem Mörder vertraut haben muss?" fragte
Töpfer.
"Zumindest einigermassen", bekräftigte Kupfer.
In diesem Moment trat Hildegard Kniffel, die Putzfrau, ein. Sie
war eine bereits ergraute, hochgewachsene, schlanke Dame.
"Ah, Frau Kniffel", begrüsste Kupfer sie. "Bitte, nehmen Sie
Platz."
Sie setzte sich, dann begann Kupfer die Befragung:
"Sie haben das Opfer also gefunden?"
"J..ja... der arme Herr Timms..."
"Wie gut kannten Sie ihn?"
"Nicht besonders gut. Aber er grüsste immer freundlich und be-
dankte sich auch mal für meine Arbeit. Das ist ja heutzutage
leider nicht mehr selbstverständlich."
"Wie wahr", warf Töpfer ein.
"Um welche Zeit fanden Sie ihn?" fragte Kupfer.
"Heute morgen, so um halb sieben", antwortete Frau Kniffel,
"als ich meinen Dienst antrat. "Normalerweise war Herr
Timms immer schon da, er wollte, dass ich bei den Tresor-
räumen zuerst sauber machte, weil danach nur noch für
Bankleute Zutritt war."
"War die Haupttür also schon auf?"
"Nein, die ist erst auf, wenn die Bank öffnet. Aber die Ange-
stellten haben einen Personaleingang, und der öffnet sich
durch einen Zahlencode."
"Aha. Nun, Frau Kniffel, ich denke, fürs Erste war das mal
alles. Würden Sie sich aber bitte noch zur Verfügung halten,
falls wir noch weitere Fragen haben?"
"Natürlich. Allerdings sollte ich meine Enkelin heute mittag
vom Kindergarten abholen. Denken Sie, dass ich...?"
"Herr Töpfer kann Ihre Adresse und Ihre Telefonnummer no-
tieren, dann können wir Sie auch so erreichen."
"Vielen Dank", sagte sie und stand auf.
"Wenn Sie uns dann bitte den Wachmann hereinschicken könn-
ten?" fragte Kupfer noch, als sie auf dem Weg zur Tür war.

Isaak Liebermann, der Wachmann, war ein grosser, bullliger
Kerl, ganz so, wie man sich einen Wachmann vorstellt, nur
dass auch er bereits in fortgeschrittenem Alter war, ergraut
und mit Ansatz zu einem Bauch, wo früher sicher mal ein
Sixpack war. Er sprach mit leicht deutschem Akzent.
"Sie sind nicht ursprünglich von hier, oder?" fragte Kupfer.
"Ich bin eingebürgert", antwortete Liebermann. "Aber ur-
sprünglich komme ich aus dem Grossen Kanton."
"Ihr Vorname lässt auf jüdische Wurzeln schliessen?"
"Meine Vorfahren waren Juden. Meine Grosseltern kamen
in einem Konzentrationslager ums Leben."
"Da musste Herrn Timms Entschluss, das Nazigold weiter
zu lagern, für Sie wohl ziemlich enttäuschend gewesen
sein?"
"Wie man's nimmt. Einverstanden war ich damit sicherlich
nicht, wenn man mich gefragt hätte. Aber man hatte mich
nicht gefragt. Ich bin hier, um meinen Job zu machen, nicht
mehr und nicht weniger."
"Eine lobenswerte Einstellung", meinte Kupfer. "Wann sahen
Sie Herrn Timms zum letzten Mal lebend?"
"Gestern abend, als ich meinen Dienst antrat. Er war abends
immer der letzte, der ging, machte erst Feierabend, wenn ich
da war. Er war sehr auf Sicherheit bedacht, der Herr Timms."
"Haben Sie irgend etwas mitgekriegt, ob noch jemand im
Haus war?"
"Nein, aber leider... Das Gebäude ist gross. Es hätte gut jemand
reinkommen können, als ich in einem anderen Teil meine Run-
de machte."
"Ohne Alarm auszulösen?"
"Das nicht. Ausser, die Person hatte einen Schlüssel."
"Wir bewegen uns irgendwie im Kreis." Kupfer kratze sich am
Kopf. "Aber Sie, als Wachmann, könnten uns vielleicht noch
von Nutzen sein. Würden Sie sich bitte zur Verfügung halten,
fall wir Sie bräuchten? Sind Sie vor Ort?"
"Ich muss sonst heute nirgendwo hin. Und ich bin alleinste-
hend. Also ganz zu Ihrer Verfügung."
"Vielen Dank. Dann fehlen noch der erste Kassier und sein
Stellvertreter. Könnten Sie den ersten Kassier zu uns herein
bitten?"

Weder der erste Kassier noch sein Stellvertreter konnten viel
zur Lösung beitragen. Beide waren erst kurz vor Schalteröff-
nung gekommen und am Abend zuvor kurz nach Schalter-
schliessung gegangen, hatten vom Geschehen zwischen den
Oeffnungszeiten nicht viel mitgekriegt. Nach der Vernehmung
konnte Kupfer sie zurück an ihre Arbei schicken. Dann lehn-
te er sich zurück und schloss kurz die Augen. Als er sie wie-
der öffnete, meinte er: "Töpfer, haben Sie sich die Personalien
von allen Beteiligten notiert?"
"Selbstverständlich, Chef", antwortete Töpfer."
"Lassen Sie sie überprüfen", sagte Kupfer.
"Wegen Vorstrafen und so?" fragte Töpfer.
Kupfer grinste. "Die arbeiten alle bei der Nationalbank", mein-
te er. "Da werden Sie keine Vorstrafen finden. Jedenfalls nicht
in der Schweiz. Aber wir haben in diesem Fall ja auch noch
eine Verbindung zu Nazideutschland. Also, weiten Sie die
Suche aus. Fragen Sie in Deutschland nach, in Oesterreich,
in Polen... Was gehörte noch alles zum Dritten Reich?"
"Das könnte eine Weile dauern", meinte Töpfer.
"Dann fangen Sie gleich damit an", gebot Kupfer.

Es war bereits Nachmittag, als Töpfers Telefon klingelte. Als
er aufgelegt hatte, meinte er: "Wir haben vielleicht etwas.
Sie schicken es uns auf die Faxnummer dieses Büros. Ich
hab denen die angegeben."
"Sehr gut", meinte Kupfer.
Das Faxgerät ratterte. Kupfer stand auf, entnahm das Schreiben
und las es durch.
"Wie ich mir gedacht habe", meinte er, als er es gelesen hatte.

Nach Schalterschluss liess Kupfer alle Beteiligten am Tatort
erscheinen. Alle, ausser Frau Kniffel, die er glaubte, aus-
schliessen zu können.
"Frau Kniffel fand das Opfer heute morgen", begann er seine
Ausführungen, "war aber gestern abend nicht hier. Ich gehe
davon aus, dass alle uns die Wahrheit erzählten. Das macht
diesen Fall speziell, denn oft ist es so, dass der Täter durch
eine Lüge überführt wird. Hier aber: nichts dergleichen. Wir
müssen uns also an das halten, was wir wissen. Wir wissen,
dass Herr Timms ein eher misstrauischer Mensch war, sozu-
sagen sogar ein Kontrollfreak. Wir wissen auch, dass zwi-
schen dem Opfer und dem Täter eine gewisse Vertrauensba-
sis dennoch bestanden haben musste. Wir wissen, dass der
Täter einen Schlüssel hatte. Wir kennen die Tatwaffe, näm-
lich einen Goldbarren, und wir wissen, dass Herr Timms
in seinem Büro erschlagen wurde. Der Täter ging also, mit
dem Wissen des Direktors, der ja seine Bürotür stets offen
hielt, wenn er da war, erst zum Tresorraum und kam erst
dann mit dem Goldbarren zurück. Wem hätte Herr Timms
wohl so sehr vertraut, dass er ihn, nach Feierabend, in den
Tresorraum hätte gehen lassen? Entweder seinem Stellver-
treter, der aber kurz vor fünf Uhr bereits ausgestempelt hat-
te und von Herrn Timms gesehen wurde... oder dem Wach-
mann, der nach fünf seinen Dienst antrat und problemlos
in den Tresorraum gelangen konnte."
"Soll das heissen..." warf Liebermann ein, doch Kupfer
unterbrach ihn.
"Soll es", sagte er. "Sie, Herr Liebermann, waren zur Tat-
zeit am Tatort. Sie sind kräftig genug, um einen erwach-
senen Mann mit einem Goldbarren zu erschlagen. Sie
platzierten die Leiche, mit dem Goldbarren im Mund.
Und warum? Um Aufmerksamkeit zu erlangen. Nicht
als Täter, nein, was Sie wollten, war, dass das Thema
Nazigold wieder zu denken gab. Sie wollten ein Exem-
pel statuieren, da Sie mit Herrn Timms Entscheid nicht
einverstanden waren. Ihre Grosseltern starben in einem
Konzentrationslager, Sie wollten Gerechtigkeit. Sie hät-
ten ihn auch mit Ihrer Dienstwaffe erschiessen können,
aber das wäre zu einfach gewesen... Nein, es musste et-
was publikumswirksameres sein."
"Aber diesmal muss es das nicht", brüllte Liebermann
und hielt im nächsten Moment eine Pistole in der Hand.
Doch Jarmann, der ihm am nächsten stand, konnte ihn
mit einem gezielten Karateschlag entwaffnen. Töpfer
nahm die Waffe an sich.
"Gut gemacht", sagte er.
"Selbstverteidigungskurs", meinte Jarmann. "War end-
lich doch noch zu etwas gut."
"Isaak Liebermann", sprach Kupfer, "ich verhafte Sie
wegen des Mordes an Thiery Timms. Kupfer, lesen Sie
ihm seine Rechte vor und führen Sie ihn ab."

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