Donnerstag, 30. Januar 2020

Kurzgeschichte: "Mord im Marzili"


"Hilfe!" schrie eine Frauenstimme durch die Anlage
des Marzilibades in Bern. "Herr Bademeister!"
Die Dame war bereits etwas älteren Datums und
trug einen roten Badeanzug. Der Bademeister,
gross und kräftig, wenn auch sein dichtes Haar
bereits ergraut war, trat zu ihr hin.
"Was gibt's denn?" fragte er.
"Kommen Sie schnell", keuchte die Dame. "Im Ba-
debecken da drüben, da liegt ein toter Mann!"
Sie führte ihn hin, und tatsächlich, auf dem Grund
des Beckens lag ein menschlicher Körper, allem
Anschein nach männlich und noch in voller Klei-
dung.
"Ich rufe die Polizei", sagte der Bademeister und
griff zu seinem Mobiltelefon.

Die Polizei war bald vor Ort, und Polizeitaucher
bargen den Leichnam aus dem Wasser. Die Ge-
richtsmedizinerin, eine dicke Frau, in einen Ove-
rall gehüllt, beugte sich über den leblosen Körper.
Zwei Beamte in Zivil traten zu ihr hin, ein etwas
kleinerer, rundlicher und ein schlankerer, etwas
grösserer.
"Frau Dr. Liam", begrüsste der Rundliche die Me-
dizinerin.
"Ah, Kommissar Kupfer, Herr Töpfer", grüsste die-
se zurück. Im Gegensatz zum Kommissar, der Dia-
lekt sprach, gebrauchte Dr. Liam das Hochdeutsche.
"So weit ich das bis jetzt sagen kann", meinte sie,
"muss er heute morgen früh den Tod gefunden ha-
ben, so zwischen sechs und halb acht."
"Ertrunken?" fragte Töpfer.
"Seltsamerweise nicht. Ein Schlag auf den Hinter-
kopf. Mit einem spitzen Gegenstand. So was wie..."
Sie blickte sich um und zeigte auf eine Stange, die
an einer Mauer lehnte. Vorne an dieser war ein Ha-
ken angebracht. "Ja, so was wie das dort."
"Was ist das?" fragte Töpfer.
"Das benutze ich, um gewisse Abfälle aus dem Was-
ser zu holen," erklärte der Bademeister. "Vorne an
dem Haken kann man ein Netz befestigen."
"Wer hat den Toten gefunden?" fragte Kupfer.
"Ein Badegast, Frau Hildebrand", antwortete der
Bademeister. "Sie müsste hier noch irgendwo sein.
Ah ja, da ist sie..."
"Sehr gut", meinte Kupfer. "Töpfer, Sie übernehmen
die Dame, ja? Und Sie heissen...?"
"Thalmann", antwortete der Bademeister. "Daniel
Thalmann."
"Wie lange sind Sie hier schon Bademeister?"
"Dieses ist mein zweites Jahr."
"Wann beginnen Sie morgens mit Ihrer Arbeit?"
"So um sieben Uhr."
"Und da haben Sie noch nichts bemerkt?"
"Nein, erst als Frau Hildebrand ganz aufgebracht zu
mir rannte..."
"Wo waren Sie da?"
"Bei den Garderoben. Da muss schliesslich auch ge-
putzt und zum rechten geschaut werden."
"Wohl wahr", meinte Kupfer. "Also gut, Herr Thal-
mann. Fürs Erste wäre das wohl alles. Wir würden
auf Sie zukommen, wenn noch weitere Fragen auf-
tauchen."
Frau Dr. Liam trat hinzu. "Entschuldigen Sie, Herr
Kommissar", sprach sie Kupfer an. "Wir haben
Papiere in den Taschen des Toten gefunden. Lei-
der sind sie völlig durchnässt, es dürfte daher nicht
so einfach sein, seine Identität festzustellen."
"Herr Korn von der Kriminaltechnik soll sich das
ansehen und schauen, ob er etwas rekonstuieren
kann", meinte Kupfer. Dann verliess er die Frau
Doktor und trat seinem Assistenten Töpfer ent-
gegen, der mit der Befragung von Frau Hilde-
brand gerade fertig geworden war.
"Und?" fragte Kupfer.
"Irmgard Hildebrand", las Töpfer seine Notizen
vor, "Stammgast im Marzilibad. Wollte heute
morgen eine Runde im Becken schwimmen,
als sie die Leiche da unten liegen sah. Das war
so um Viertel nach Sieben."
"Adresse und Telefonnummer haben Sie notiert?"
"Selbstverständlich, Herr Kommissar."
"Gut. Jetzt können wir vorläufig nichts weiteres
tun als auf Bescheid von der Kriminaltechnik
warten. Fahren wir zurück."

Es dauerte zwei Tage, bis Tobias Korn, der Krimi-
naltechniker, bei Kupfer im Büro vorbeikam. Er
war ein dunkelhaariger, mittelgrosser Mann mit
Bauchansatz und Brille.
"Wir konnten den Ausweis der Marzili-Leiche so-
weit wiederherstellen, dass er zumindest wieder
lesbar ist", erzählte er und überreichte Kupfer das
besagte Dokument.
"Lukas Kuhn", las Kupfer. "Wieso klingelt da bei
mir was?"
"Vielleicht ein alter Bekannter?"
"Möglich. Ich lasse Töpfer das überprüfen. Danke,
Herr Korn."

Nach der Mittagspause brachte Töpfer das Resultat
seiner Recherchen zu seinem Chef.
"Das dürfte Sie interessieren", meinte er und über-
reichte ihm einen Stapel Papiere. Kupfer nahm sie
entgegen und überflog sie.
"Deshalb kam mir der Name bekannt vor", meinte
er dann. "Lukas Kuhn war vorbestraft."
"Und er hatte einiges auf dem Kerbholz", ergänzte
Töpfer. "Diebstahl, mehrfache Erpressung, Tot-
schlag. Für letzteres sass er drei Jahre auf dem Thor-
berg. Aber das wirklich Interessante ist das andere
Dokument."
Kupfer blätterte weiter und sah, dass Töpfer noch
etwas ausgedruckt hatte.
"Thalmann?" fragte er. "Der Bademeister ist auch in
unserer Kartei vertreten?"
"Zwei Jahre Thorberg wegen Bankraubs", erläuterte
Töpfer.
"Was heisst, dass die beiden Herren sich gekannt ha-
ben könnten", meinte Kupfer. "Wissen wir die ge-
nauen Daten der jeweiligen Gefängnisaufenthalte?"
"Sarah ist gerade dabei, sie abzuklären."
In diesem Moment klopfte es an der Tür und Sarah
Rahm, die jüngste Polizistin in Kupfers Team, eine
kurvige Frau mit immer wieder wechselnder Haar-
farbe, trat ein. Zur Zeit war sie brünett.
"Sie kannten sich garantiert", sagte sie. "Sie waren
nämlich Zellengenossen."
"Gute Arbeit", lobte Kupfer. "Von Ihnen beiden.
Nun, wir können also davon ausgehen, dass Thal-
manns Arbeitgeber wohl nichts von seiner Vergan-
genheit weiss..."
"Nicht?" fragte Töpfer.
"Ein städtischer Betrieb?" Kupfer schmunzelte. "Wir
wissen doch alle, wie wichtig denen ein sauberer
Leumund ist. Und zu welcher Schlussfolgerung führt
uns dies?"
"Zu welcher?" fragte Töpfer.
"Denken Sie doch nach, Töpfer", meinte Kupfer. "Was
hatte Kuhn, laut unseren Akten denn so auf dem Kerb-
holz?"
Töpfer griff sich die Akte und las nach: "Diebstah, Er-
pressung... Ach so, ich glaube, jetzt weiss ich, worauf
Sie hinaus wollen."
"Sehen Sie", meinte Kupfer schmunzelnd. "Ist doch gar
nicht so schwer."

Es war sieben Uhr morgens, als Kupfer und Töpfer er-
neut beim Marzilibad vorfuhren. Sie betraten die An-
lage und fanden den Bademeister beim Säubern eines
Beckens vor, mit der Apparatur, die er ihnen drei Tage
zuvor erklärt hatte.
"Dürfen wir Ihnen dieses Gerät abnehmen?" fragte Kup-
fer, als sie zu ihm traten.
"Wollen Sie hier weiter putzen?" fragte Thalmann.
"Nein", antwortete Kupfer. "Wir wollen die Tatwaffe
sichern. Wir sind nämlich ziemlich sicher, dass die
Spuren der Verletzung bei Herrn Kuhn zu diesem Werk-
zeug passen."
"Kuhn hiess der Mann also?" gab Thalmann sich unwis-
send.
"Lukas Kuhn", bestätigte Kupfer. "Sie kannten sich. Sie
waren nämlich zur gleichen Zeit im Gefängnis. Thorberg."
"Und?"
"Ihr Arbeitgeber weiss davon nichts. Irgendwie ist es Ih-
nen gelungen, dieses Kapitel aus Ihrem Lebenslauf zu
streichen und eine andere plausible Erklärung für die
Lücke von drei Jahren zu finden."
"So weit ich weiss, ist das noch nicht strafbar."
"Das nicht. Aber wir wissen alle, dass Sie mit Ihrer Vor-
strafe bei einem städtischen Betrieb nicht angenommen
worden wären. Wäre dies rausgekommen, hätte Ihnen
möglicherweise die Kündigung gedroht. Kuhn sah Sie
hier, erkannte Sie wieder... und erkannte eine Chance.
Er war schon mehrmals wegen Erpressung angeklagt,
und bei Ihnen versuchte er es ein weiteres Mal..."
Thalmann kratzte sich am Kopf. "Leugnen dürfte
wohl keinen Zweck mehr haben", meinte er ruhig,
"aber eines sollten Sie wissen: Es war ein Unfall..."
"Könnte sein, dass der Richter das anders sieht",
meinte Kupfer, während Töpfer dem Bademeister
Handfesseln anlegte.




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